Kritische Männlichkeit: Von Fußball, Sex und Biokrams

von Anja Rühlemann

Ich verstehe erst später, wie toxisch dieses Verhalten ist. Vielmehr noch, ich verstehe erst jetzt, dass toxische männlichkeit nichts mit männern per se zu tun hat. Sie kann von allen Geschlechtern übernommen werden, also auch von mir, indem ich sie selbst lebe oder ignoriere und damit verfehle, sie in Frage zu stellen und ihr lauthals den Mittelfinger zu zeigen.

Der mann in mir

In einer Familie mit vollzeitarbeitenden Eltern, die sich gemeinsam mit mir und meinem bruder alle Haushaltsaufgaben teilten, fühlte ich mich (außer in meinen pubertierenden Jahren) immer gerecht behandelt. Ohne jemals meine Privilegien oder die meines bruders und vaters zu hinterfragen, dachte ich mir, mh ziemlich moderne Familie. Durch die ballverrückten männer im Haus, verbrachten wir viel Zeit im Stadion, stets umgeben von jungs und männern. Ich fühlte mich dadurch besonders in männlicher Gesellschaft wohl, raufte mich gerne mit meinem bruder, stellte Blödsinn mit ihm und seinen Freunden an und lachte über ihre Witze. Natürlich kamen hier Witze über Frauen nicht zu kurz, doch das war schon okay, denn damit waren ja ‚die anderen’ gemeint. Die altbekannten Worte „Sei doch kein Mädchen“, die ich immer auf dem Bolzplatz hörte, brannten sich in mein Hirn.

Um dazuzugehören, hielt ich mich an männlich konnotierte Verhaltensweisen, war risikobereiter und dadurch irgendwie cool – ganz im Gegensatz zu jungs, die durch Weiblich konnotierte Verhaltensweisen eher als “schwul” oder eben als “Pussy” abgestempelt wurden. jungs setzten also alles daran, Stärke zu zeigen, über ihre Weiblichen Errungenschaften zu protzen, und später über “ihre Weiber” zu meckern, die ihnen angeblich ihren Freiraum nahmen und nach manchem männerkopf natürlich besonders scharf darauf waren, sie als ihre zukünftigen Versorger zu sehen.

Klingt harmlos? Doch wenn Alkohol im Spiel war, ging es auch mal etwas handgreiflicher zu, eben um zu zeigen, wer die Hosen anhat. Kräfte messen im Club beendete den Abend hin und wieder mit den Klängen eines Krankenwagens und auch sonst war (und ist) männliche Aggressivität keine Seltenheit. Ich verstehe erst später, wie toxisch dieses Verhalten ist. Vielmehr noch, ich verstehe erst jetzt, dass toxische männlichkeit nichts mit männern per se zu tun hat. Sie kann von allen Geschlechtern übernommen werden, also auch mir, indem ich sie selbst lebe oder ignoriere und damit verfehle, sie in Frage zu stellen und ihr lauthals den Mittelfinger zu zeigen.

Was ist toxische männlichkeit und woher kommt sie?

Mit toxischer männlichkeit werden männlich konnotierte Verhaltensweisen und Eigenschaften bezeichnet, die Teil eines Ideals von männlichkeit sind, welches unter anderem auf Dominanz, Selbstüberschätzung, Konkurrenzdenken und Verachtung von Schwäche und Empathie basieren kann. Toxische männlichkeit wird in bestehenden Geschlechterhierarchien Weiblich gelesenen Personen und Weiblich konnotierten Merkmalen übergestellt und kann verschiedene Formen wie Diskriminierung, Ausbeutung oder Selbsthass annehmen.

Diese Verhaltensweisen, die bereits Kindern eingepflanzt werden und durch soziale Gruppen und Mainstream-Medien gedeihen, können zu offensichtlichem Leid gegenüber anderen Personen wie auch der Person selbst führen. So bedeutet toxische männlichkeit nicht nur gewaltbereiter zu sein und größere Risiken einzugehen, wie im Straßenverkehr oder im Job, sondern auch öffentlich desinteresse an Umwelt und Gesundheit zu zeigen, denn große Spritschleudern, Rauchen, Trinken und vor allem Fleisch bringt das Testosteron so richtig zum Anschlag. Führsorgliches Handeln oder Arztbesuche hingegen – allen voran psychologische Unterstützung – sind im besten Fall etwas für Heulsusen oder Weiblich gelesene Personen.

Von wegen Weiberwirtschaft ? ?

Toxische männlichkeit basiert demnach auf Werten, Normen und Strukturen, die von vätern und männern geprägt wurden und aufgrund des (noch) geringen Einflusses von Gegenströmen von allen Geschlechtern aufrecht erhalten wird. Wir finden vor allem weiße cis hetero männer, die unsere Geschichten schreiben, unsere Politik und Wirtschaft bestimmen, unsere Sport- und Medienhäuser besetzen und damit kapitalistische und patriarchalische Ausbeutungen aufrechterhalten.

Exklusiv-männliche Gesellschaften sind dabei besonders toxisch. Dazu zählen mannschaftssportarten wie Fußball oder Rugby, die ihr eigenes, oft aggressives und streitlustiges Ideal von männlichkeit verfolgen. Mit Burschenschaften oder anderen exklusiv-männlichen Netzwerken werden männer regelrecht dazu erzogen, Überlegenheit zu verkörpern, erst recht wenn Rituale, wie z.B. Mutproben, zu einer Aufnahme in diesen exklusiven Kreis gehören. Dabei begünstigen patriarchale Strukturen vor allem den Einfluss von (weißen cis) männern, welche wiederum dafür sorgen, dass diese Strukturen fortbestehen. Ein Teufelskreis also.

Sex und Gewalt

Doch diese teuflischen Verhaltensweisen sind nicht nur für unser System gefährlich. Das Fanzine “Nebenwidersprüche” zeigt in ihrer Ausgabe zu Toxischer Männlichkeit mit Statistiken aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass polizeilich erfasste Gewalttaten zu 91,37% von männern ausgehen. männer sind jedoch auch diejenigen, die häufig Opfer von Gewalttaten werden (59,4%). Auch sexualisierte Gewalt wird überwiegend von männern verübt, um die gesellschaftlich vorgelebte und als natürlich betrachtete sexuelle männliche Gier zu befriedigen.

Ein Blick in Mainstream-Medien und Pornografie verbildlichen teilweise brutale Verhaltensweisen von männern beim Geschlechtsverkehr – ein absurdes Vorbildverhalten, das in die reale Welt übernommen wird. Andere Formen von Sex und Zuneigung werden als grotesk bezeichnet und aus Sorge vor Zurückweisung belächelt oder verdrängt. Doch mit der Unterdrückung und Verachtung Weiblich konnotierter Verhaltensweisen bei männern, tun wir keinem Geschlecht einen Gefallen. So verstummen viele männlich sozialisierte Personen, die Opfer von Gewalt oder sexuellem Missbrauch werden, vor allem wenn von  FLINT*-Personen verübt.

Moderne Frauenhasser ?️

Um zeitgemäß anti-patriarchalen Bewegungen entgegenzuwirken, stärkt sich toxische männlichkeit auch im Netz. Die sogenannte Manosphere besteht aus offenen Communities, die sich über Blogs, Foren, YouTube und Webseiten wie Reddit in ihrer Überzeugung bestärken, dass die Welt vom Feminismus überrannt wird und der einzige Weg, sich zu wehren, darin besteht, überdominante, traditionell männliche Geschlechterrollen durchzusetzen.

Diese Zusammenkünfte weißer, heterosexueller, sozial und sexuell frustrierter männer stehen teilweise in Verbindung zu rechtsextremen Bewegungen und können sich zu gefährlichen Subkulturen entwickeln. Vereinzelte Anhänger neuer Gruppen wie Men Going Their Own Way (MGTOW[1]) und Involuntary Celibates (Incels[2]) schrecken dabei weder vor Online Harrassment noch vor physischer Gewalt zurück. Dazu zählen auch Massenmorde wie in Norwegen (2011) oder Toronto (2018), deren Täter in Zusammenhang mit der Manosphere stehen. Sie sind oft männer, die sich in der (kapitalistischen) gesellschaftlichen Rangordnung nach unten gedrängt fühlen und von der Angst getrieben sind, ihre verbliebene soziale und sexuelle Macht gegenüber Frauen zu verlieren. Und jetzt verlangt der Feminismus auch noch, diese verbliebene Macht über Bord zu werfen? Wie dreist.

[1] MGTOWs glauben, dass die Gesellschaft sich gegen männer richtet [33]. Sie ‘gehen ihren eigenen Weg’, der vor allem mit Antifeminismus und Frauenfeindlichkeit einhergeht, und eine Beziehung mit frauen ablehnt (Ribereiro et al., 2020).

[2] Incels sind männer, die sich selbst als Beta-Männer bezeichnen und annehmen, dass Frauen ihnen aufgrund ihres Aussehens und Auftretens Sex verwehren. Ein starkes Gefühl der Ablehnung und Wut gegenüber Frauen und auch attraktiven männern vereint sie ebenso wie Einsamkeit und Selbsthass (Ribereiro et al., 2020).

Die Machtfrage

Also nochmal zum Mitschreiben: Feminismus strebt nicht nach der Weltherrschaft der Frauen. Er strebt vielmehr nach der Abschaffung von Herrschaft und damit einem Ende der toxisch-männlich dominierten politischen, ökonomischen und sozialen Ausbeutungen von Mensch und Natur. Als Teilaspekt des Feminismus verlangt Kritische Männlichkeit eine Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlich produzierten toxisch-männlichen Verhaltensweisen, die Herrschaftsansprüche legimitieren und Dominanz gegenüber anderen Geschlechtern (re-)produzieren.

Anstatt Arschlochverhalten als evolutionsbedingt abzustempeln, müssen wir (und vor allem weiße cis männer) Dominanzsysteme erkennen und hinterfragen. Auch wenn das bedeutet, dass wir offenlegen, wie viel Leid patriarchale Strukturen bereits verursacht haben, müssen wir uns mit Geschlechtern, Sexualität, Macht und Privilegien auseinandersetzen. Wir müssen Mut haben Angst zu haben, verunsichert zu sein und offen zu diskutieren, wie wir Geschlechter von repressiven Stereotypen befreien, wie wir Mensch sind und aus Entmenschlichung Menschlichkeit machen.

 

 

Literatur

kaos München (2019) Toxische Männlichkeit. Verfügbar unter Nebenwidersprüche, Anarchafeministisches Fanzine: https://nebenwidersprueche.noblogs.org/files/2019/03/nebenwidersprueche-vol02-web.pdf

Landsbaum, C. (2016) Men’s-Rights Activists Are Finding a New Home With the Alt-Right. Verfügbar unter:

https://www.thecut.com/2016/12/mens-rights-activists-are-flocking-to-the-alt-right.html

Ortmann, M. (2020) Was die Incel-Szene so gefährlich macht. Verfügbar unter:

https://www.n-tv.de/politik/Was-die-Incel-Szene-so-gefaehrlich-macht-article21968298.html

Penny, L. (2015) Feminismus: Die Befreiung der Männer. Verfügbar unter:  https://www.blaetter.de/ausgabe/2015/juni/feminismus-die-befreiung-der-maenner

Penny, L. (2015) Die soll an Schwänzen ersticken – Hass und Frauenverachtung im Internet. Verfügbar unter: https://www.blaetter.de/ausgabe/2018/juli/die-soll-an-schwaenzen-ersticken

Ribeiro, M. H., Blackburn, J., Bradlyn, B., De Cristofaro, E., Stringhini, G., Long, S., & Zannettou, S. (2020) The Evolution of the Manosphere across the web. Verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/338737324_The_Evolution_of_the_Manosphere_Across_the_Web

Textor, M. (2017) Kritische Männlichkeit – Eine theoretische Hinführung zu einer praktischen Perspektive. Verfügbar unter: http://queerfem.de/wp-content/uploads/2018/10/DOKUKritischeM%C3%A4nnlichkeit_MarkusTextor-1.pdf