“Feministische Entwicklungspolitik beginnt hier”

Text: Julika Zimmermann | Bild im Header: Engagement Global

Eindrücke der Ulmer Tagung “Frauen.Macht.Weltweit. Gerechte Gesellschaft durch feministische Entwicklungspolitik”

Der zweite Gong nach der Mittagspause ertönte und die taffe Moderatorin Nina Alff scheuchte die mit Kaffeetassen klirrende und quasselnde Masse zurück in den Saal des Ulmer Stadthauses. Es war so weit. Es war der 27. November 2023, 13:00 Uhr, auf der Konferenz „Frauen. Macht. Weltweit.“ von Engagement Global. Es war Zeit für meinen Input „Burn Patriarchy not Oil – ökofeministische Impulse für die deutsche Entwicklungspolitik“.  Aber war der überhaupt noch relevant? 

Schon alles gesagt? 

Nervös nippte ich an dem Glas Wasser, das mir bereitgestellt wurde, und trat näher an das Mikrofon auf dem Redepult. In meinem Kopf schwirrten die Eindrücke des bisherigen Tages. Hatte ich noch irgendetwas zu sagen, was meine Vorrednerinnen nicht eh schon deutlich gemacht hatten? „Hallo.“, setzte ich schließlich an. „Mein Name ist Julika Zimmermann, mein Pronomen ist „sie“ und ich bin von der ökofeministischen Organisation Women Engage for a Common Future.“ Ich hielt inne und starrte in die Gesichter der fast 100 Besucher*innen, die erwartungsvoll zurückstarrten. Fast alles Frauen, die meisten älter als ich. Manche freundlich, manche kritisch, andere offenbar gelangweilt.  

Meine Vorrednerinnen waren alles Frauen aus der Praxis gewesen. Frauen wie Norzin Grigoleit-Dagyab, Stellvertretende Leiterin des Referats für Feministische Entwicklungspolitik im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), die live aus dem Ministerium das neue feministische Konzept vorstellte. Dann war da die junge Vorständin von UN Women Deutschland, Nora Teuma, die direkt vom Flughafen nach Ulm gekommen war, nachdem sie mehrere Wochen in Indien verbracht hatte, um dort zu Altersarmut von Frauen zu forschen. Und nicht zuletzt hatte die Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Fatuma Musa Afrah, Gründerin von United Action Women and Girls, direkt vor der Mittagspause von ihrer Arbeit berichtet: Von den Integrationsversuchen der Newcomer-Frauen im brandenburgischen Hinterland, von den Realitäten traumatisierter Frauen, die nichts weiter wollen, als in Sicherheit leben, aber hier in Deutschland mit Ablehnung, Hass und Ausgrenzung konfrontiert werden – und einem Staat, der sie im Stich lässt. Derselbe Staat, der in ihren Herkunftsländern Entwicklungspolitik betreiben will. Was lässt sich dazu noch sagen? Von mir, als weiße, deutsche Münchnerin, die die harten Realitäten der „most affected peoples and areas (MAPA)“ nur aus Social Media kennt.  

Julika Zimmermann (li), Fatuma Musa Afrah (mi), Katrin Weitzel (re) | Foto: Engagement Global

Es war angemessen, die Systemfrage zu stellen 

„Ich bin keine Expertin für Entwicklungspolitik“, fuhr ich schließlich fort, in dem Bestreben möglichst ehrlich zu sein. „Alles, was ich euch heute erzählen kann, sind systemische Analysen. Es sind abstrakte Ideen dazu, welche Aspekte des Ökofeminismus für die Entwicklungspolitik hilfreich sein könnten.“ Und die ich in nur 30 Minuten verständlich auf den Punkt bringen soll, fügte ich noch in Gedanken hinzu. Wie soll das funktionieren? 

Es funktionierte gut. Wie sich in den Feedbacks und den Gesprächen nach meinem Input herausstellte, war es kein Fehler gewesen, die Systemfrage zu stellen. Erneut zu betonen, dass Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus in ihrer Dreifaltigkeit die Krisen der Welt zu verantworten haben – seien es Klimafolgen, Gewalt gegen Trans*, Frauen, Inter* und Queers oder Armut. Zu betonen, dass in der Auflösung dieser Krisen nur ein intersektionaler Ansatz erfolgreich sein wird, der patriarchalen Werten trotzt, eurozentristische Sichtweisen hinterfragt und Selbstbereicherung sowie Tauschlogik im politischen Handeln durch eine Praxis der internationalen Solidarität und Fürsorge ersetzt. Denn dieses System finden wir nicht irgendwo in den Ländern des Globalen Südens. Dieses System finden wir hier bei uns. Und der schlimmste Fehler, den wir machen können, ist, dieses System durch entwicklungspolitische Projekte in die Länder zu tragen, die wir nach den Regeln genau dieses Systems in den wirtschaftlichen Ruin oder die politische Instabilität (oder beides) getrieben haben. Denn wie Fatuma in ihrem Input ganz richtig meinte: Feministische Entwicklungspolitik beginn hier. Bei uns. 

Es ist nicht nur eine Frage von Repräsentanz 

Dass wir das offenbar noch nicht begriffen haben, wurde vor allem in der Podiumsdiskussion zum Abschluss der Tagung deutlich. Auf dem Podium saßen Sebastian Cuny, Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg und entwicklungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, Franziska Freihart, Referentin im Städtetag Baden-Württemberg und erneut Fatuma. Die Frage, die im Raum stand: Wenn sich die Machtverhältnisse der Welt zugunsten der Rechte von FINTA*, Queers und BIPoC verschieben sollen – wer gibt dann Macht ab? Sind die cis Männer in diesem Land bereit, Macht abzugeben? Sind wir als westliche Wirtschaftsmacht bereit, Macht abzugeben?  

Die Frage scheint simpel, doch ist die Antwort weitaus komplexer. Natürlich sehen wir auf der einen Seite die Unterrepräsentanz von bestimmten Bevölkerungsgruppen. Beispielsweise sind nur zehn Prozent der Bürgermeister*innen in Deutschland weiblich, erklärt Franziska Freihart und ermutigt darum Frauen in ihrem Projekt „Ich kann das!“ sich als Kandidatinnen für das Bürgermeister*innen-Amt aufzustellen. Eine wichtige Arbeit, die allerdings auf einer ganz anderen Ebene stattfindet als die von Fatuma und ihrem Team mit Newcomer-Frauen. 

Podium mit Franziska Freihart, Fatuma Musa Afrah, Nina Alff (Moderation) und Sebastian Cuny (von links nach rechts)

Die geeignetsten Multiplikator*innen für feministische Entwicklungspolitik sitzen in Geflüchtetenunterkünften fest 

Die Frauen, die Fatuma in ihrem Projekt versucht aufzufangen, wären die besten Multiplikator*innen für die deutsche feministische Entwicklungspolitik, sagt sie. Aber diese Frauen haben ja kaum Zugang zu Deutschkursen, geschweige denn Zugang zu Schulungen über deutsches Arbeitsrecht oder einen Führerschein. Alles, was ihnen bleibt, ist der Bus morgens um vier, der sie im brandenburgischen Hinterland zu einem total unterbezahlten Job transportieren soll, inklusive den sexuellen und rassistischen Belästigungen, die ein öffentliches Verkehrsmittel um diese Uhrzeit in diesem Patriarchat mit sich bringt.  

„Was tut ihr für diese Frauen“, fragt Fatuma die zwei Politiker*innen auf dem Podium – und bekommt keine zufriedenstellende Antwort. Weil es sie nicht gibt. Stattdessen erzählt Sebastian Cuny sichtlich betroffen von einem Fall, der gerade auf seinem Schreibtisch liegt. Es ist der Fall einer russischen Familie, die seit Jahren in Deutschland wohnt, deren Kinder hier zur Schule gehen, die sogar eine Eigentumswohnung besitzen – aber deren Visum jetzt leider abläuft. Das Gesetz sieht vor, dass die Familie für ihren Asylantrag zurück in eine Erstaufnahmeunterkunft muss. Seitdem sucht Herr Cuny nach Lücken im Gesetz und berät sich mit Expert*innen, damit die russische Familie in ihrer Wohnung bleiben kann. Bisher wurde er noch nicht fündig, aber er hofft darauf. Denn am Ende ist der Wille des Staates Gesetz. Und diese Gesetze binden einem einfachen Landtagsabgeordneten die Hände, obwohl er weiß und cis männlich ist. Hier ist auch er machtlos. 

Wir müssen erst uns selbst entwickeln 

Wir haben also Frauen auf dem brandenburgischen Land, von denen wir in punkto feministischer Entwicklungspolitik eine Menge lernen könnten, wenn wir ihnen nur Zugang zu Entscheidungsgremien geben würden. Was wir aber nicht tun. Und selbst wenn, wären das größtenteils Entscheidungsgremien, die an überflüssige, veraltete und unflexible Gesetze gebunden sind und eben diese Frauen mir nichts dir nichts zurück in ein Asylant*innenheim stecken könnten. Deutschkurs, Job und Führerschein hin oder her. Ein Staat, in dem solch menschenverachtende Mechanismen möglich sind, sollte sich als aller erstes selbst weiterentwickeln, bevor er sich anmaßt, irgendeinem anderen Land etwas von Rechten, Ressourcen und Repräsentanz zu erzählen – die drei „Rs“ in den Leitlinien für eine feministische Entwicklungspolitik des BMZ 

Der Zweck der feministischen Entwicklungszusammenarbeit sollte Wiedergutmachung sein 

In meinem Vortrag zitierte ich die Autorin und Aktivistin Paola Salwan Daher. Über die feministische Entwicklungspolitik sagt sie: „Solange es keine konkreten Initiativen gibt, die alte Machtdynamiken durchbrechen, bleibt es [die feministische Entwicklungspolitik] Etikettenschwindel.“i Als Norzin Grigoleit-Dagyab, zugeschaltet aus dem BMZ, das neue feministische Konzept vorstellte, berichtete sie darüber, welche internen Dynamiken der neue feministische Ansatz in ihrem Ministerium auslöste. Plötzlich gab es Workshops zu kritischer Männlichkeit für die Kollegen und mehr Diversität in der Besetzung von Positionen. Grigoleit-Dagyab erwähnte diesen Part ganz zuletzt in ihrem Input, als wäre es ein hübsches aber unrelevantes Ad-on. Dafür halte ich das für die bisher sinnvollste Auswirkung des neuen Konzepts: dass sich unsere eigenen Behörden umkrempeln müssen, um ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Erst dann können wir den zweiten Schritt gehen. 

Der zweite Schritt ist der in die konkrete Zusammenarbeit mit Partnerländern. Dabei gilt es diese Länder wirklich als Partner*innen zu betrachten und nicht als „potentielle Kund*innen“ii, wie es Gina Cortés Valderrama einmal ausdrückte. Der Zweck von feministischer Entwicklungspolitik sollte nicht sein, neue Wirtschaftspartner*innenschaften zu gründen, von denen vor allem Deutschland profitiert. Der Zweck sollte der einer Wiedergutmachung für „vergangenes Leid und gegenwärtigen Schaden“iii sein – um die Worte von Nzilani Simu vom Gender and Development Network zu nutzen. Organisationen an der Basis wie wir können dabei eine vermittelnde und regierungsberatende Rolle spielen und versuchen, Brücken zu bauen.  

Systemische Veränderungen laufen langsam, darum brauchen sie den Nachdruck aus der Zivilgesellschaft 

Brücken schlugen auch die zwischenmenschlichen Gespräche nach meinem Input. Vor allem Brücken zwischen den Generationen. Von den meisten Frauen hörte ich überraschend positives Feedback wie: „So klar habe ich die Zusammenhänge noch nie gesehen.“ Oder: “Mir war die Rolle des Kapitalismus gar nicht bewusst.“ Die Stimme, die mir aber am deutlichsten in Erinnerung blieb, war die einer Frau, die mir mit unverhohlener Enttäuschung sagte, sie sei seit den 70er Jahren politisch aktiv und meinen Vortrag hätte ich genauso auch damals halten können. Sie sagte, dieses Wissen hätten wir schon ewig, aber es habe sich nichts geändert. 

Ich musste lange über ihre Worte nachdenken. Da ich erst 1990 geboren wurde, kann ich eine Entwicklung seit den 1970er Jahren natürlich nicht beurteilen. Als Sprachwissenschaftlerin glaube ich aber an die Macht der Worte. Und bei aller Kritik an dem System und bei allen Zweifeln, ob ein BMZ der Bundesrepublik Deutschland ein feministisches Konzept der Entwicklungszusammenarbeit wird umsetzen können, halte ich es für unglaublich mutig und absolut unterstützenswert, dass es plötzlich zwei hochrangige Ministerinnen in unserer Regierung gibt, die ihre Regierungsprogramme offiziell „feministisch“ nennen und es gegen jede Kritik an einem feministischen Ansatz verteidigen.  

Das ist nicht nichts. Es ist ein wertvoller Richtungsweiser. Und mit genügend Nachdruck aus der Zivilgesellschaft zeigt dieser Richtungsweiser irgendwann vielleicht nicht mehr nur in ein wirres Gestrüpp aus Gras, Büschen und Bäumen, sondern einen breiten, gut befahrbaren Weg entlang, der uns näher an den Systemwandel führt.

 

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