EU-Roadmap soll giftige Chemikalien verbieten
Beschränkungs-Roadmap zur Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit: Tausende der berüchtigtsten Chemikalien sollen in Europa zügig verboten werden
Wir von WECF begrüßen den Schritt EU-Kommission in Richtung der „Zero-pollution-Strategie“
Brüssel / München 25. April 2022
Wenn die Maßnahmen umgesetzt werden, die die Europäische Kommission heute in ihrer „Restrictions Roadmap under the Chemicals Strategy for Sustainability“ verkündet, handelt es sich um die bisher umfangreichste regulatorische Streichung von zugelassenen Chemikalien, gegen die Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsgruppen seit Jahrzehnten gekämpft haben.
Der heute angekündigte Fahrplan, ist eine politische Verpflichtung, die bestehenden Gesetze zu nutzen, um alle Flammschutzmittel – Chemikalien, die häufig mit Krebs in Verbindung gebracht werden – und alle Bisphenole, die häufig in Kunststoffen verwendet werden, aber die menschlichen Hormone stören, zu verbieten. Außerdem sollen alle Formen von PVC, dem am wenigsten recycelbaren Kunststoff, der große Mengen an giftigen Zusatzstoffen enthält, verboten werden, ebenso wie alle PFAS-Chemikalien, die als “Ewigkeitschemikalien” bezeichnet werden, sowie rund 2.000 schädliche Chemikalien, die in Babywindeln, Schnullern und Kinderpflegeprodukten enthalten sind, eingeschränkt werden.
Offizielle Vertreter*innen der EU sind unglücklich darüber, dass etwa 12.000 Chemikalien, von denen bekannt ist, dass sie Krebs und Unfruchtbarkeit verursachen, die Wirksamkeit von Impfstoffen verringern und andere gesundheitliche Auswirkungen haben, immer noch in vielen Produkten zu finden sind. Darunter auch in sensiblen Kategorien wie Babywindeln und Schnullern. Sie betrachten die Roadmap als einen schnellen ersten Schritt in einer EU-Chemikalienstrategie, der später, insbesondere ab Ende 2022, zu grundlegenden Änderungen führen soll.
Für einige Chemikalien auf der Roadmap-Liste galten in der EU bereits Beschränkungen, die meisten sind jedoch neu. Der Verbotsprozess für alle Chemikalien auf der Liste wird innerhalb von zwei Jahren beginnen. Nach Schätzungen des European Environment Bureaus, dessen Netzwerk auch WECF angehört, werden alle Stoffe bis 2030 verschwunden sein.
Die Industrie hat gegen frühe Entwürfe der Pläne einen “Proteststurm” ausgelöst und wird voraussichtlich versuchen, die Roadmap zu verwässern. Der Chemiesektor ist der viertgrößte Industriezweig in der EU, und einige der reichsten und mächtigsten Männer Europas sind Eigentümer dieser Unternehmen. Der Industrieverband CEFIC räumte im Dezember ein, dass nicht weniger als 12.000 Chemikalien, die in 74 % der Verbraucher- oder gewerblichen Produkte enthalten sind, ernsthafte Gesundheits- oder Umwelteigenschaften haben.
Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten unterstützen den Fahrplan einhellig, obwohl sich Italien gegen Maßnahmen zum Verbot von PVC-Kunststoffen wehrt (siehe Seiten 3-5).
Johanna Hausmann, Senior Policy Advisor für WECF: „Wir begrüßen den entschlossenen Schritt der EU-Kommission schädliche Chemikalien zügig zu verbieten. Mit jeder schädlichen Chemikalie, die, schon vorhanden oder neu produziert, auf den Markt kommt, gefährden wir täglich aufs Neue unsere Umwelt und Gesundheit. Der viel zu langsame und zu wenig kontrollierte Regulierungsansatz der EU, hat dazu geführt, dass die Industrie zig Tausende von Stoffen in Umlauf bringen konnte, auch wenn keine ausreichenden Daten vorlagen, und so umweltbedingte Krankheiten zunehmen, Kinder vorbelastet auf die Welt kommen, und die Umwelt über Jahrhunderte mit persistenten Substanzen verseucht ist. Wir hoffen sehr, dass die Politik sich nicht dem großen Lobbypotential einer starken Industrie beugt, und ihre in der Chemikalienstrategie angekündigte Politik mit der heute vorgestellten Roadmap zum wirklichen Schutz vor schädlichen Chemikalien vorausschauend und konsequent umsetzt.“
Hintergrund
In Europa werden schätzungsweise 200.000 Chemikalien verwendet. Der weltweite Umsatz mit Chemikalien hat sich zwischen 2000 und 2017 mehr als verdoppelt und wird sich bis 2030 voraussichtlich nochmals verdoppeln. Gemessen am Volumen sind drei Viertel der in Europa hergestellten Chemikalien gefährlich. Wissenschaftler*innen erklärten kürzlich, dass die chemische Verschmutzung eine planetarische Grenze überschritten hat, und letzten Monat stellte ein UN-Umweltbericht fest, dass die chemische Verschmutzung mehr Todesfälle verursacht als Covid-19.
Die tägliche Exposition gegenüber einem Mix aus toxischen Stoffen, ein Aspekt, der häufig vernachlässigt wird, wird mit einer zunehmenden Gefährdung von Gesundheit, Fruchtbarkeit und Entwicklung sowie mit dem Zusammenbruch von Insekten-, Vogel- und Säugetierpopulationen in Verbindung gebracht. Chemikalien mit gefährlichen Eigenschaften sind in Lebensmitteln, Trinkwasser, Produkten, in unseren Wohnungen und am Arbeitsplatz allgegenwärtig.
Etwa 700 Industriechemikalien werden heute im Menschen gefunden, die bei unseren Großeltern noch nicht vorhanden waren. Babys kommen nach Aussagen von Ärzt*innen bereits “vorbelastet” zur Welt.
Eine europaweite offizielle Umfrage im Jahr 2020 ergab, dass 84 % der Europäer*innen über die Auswirkungen von Chemikalien in Alltagsprodukten auf ihre Gesundheit und 90 % über deren Auswirkungen auf die Umwelt besorgt sind.
Gender Aspekt
Frauen sind aufgrund biologischer und sozialer Faktoren hier und weltweit anders von der Exposition gegenüber schädlichen Chemikalien betroffen. Dies muss Eingang in die Risikobewertung, in Biomonitoring und in politische Maßnahmen im Rahmen einer geschlechtergerechten Chemikalienpolitik haben. Dieser Aspekt bliebt im Europäischen Green Deal bisher auch im Rahmen der Chemikalienpolitik meist unberücksichtigt.
Traditionell reguliert die EU ihre Chemikalien einzeln, ein Ansatz, der mit der industriellen Entwicklung einer neuen Chemikalie alle 1,4 Sekunden nicht Schritt halten kann. In den letzten 13 Jahren hat die EU rund 2.000 gefährliche Chemikalien verboten, mehr als jede andere Region der Welt. Diese Beschränkungen gelten jedoch nur für sehr wenige Produkte, wie Kosmetika und Spielzeug. Ungefähr dieselben Stoffe werden nun auch in Kinderpflegeartikeln verboten, einer größeren Produktgruppe als Spielzeug oder Kosmetika. Darüber hinaus werden die meisten anderen chemischen Gruppen, auf die der Fahrplan abzielt, für viele Produktgruppen gelten, was die Auswirkungen der Regulierung deutlich erhöht.
Die Roadmap wird einen gruppenbasierten Ansatz zur Regulierung von Chemikalien fördern, bei dem das schädlichste Mitglied einer chemischen Familie die rechtlichen Beschränkungen für die gesamte Familie festlegt. Damit soll die Praxis der Industrie beendet werden, chemische Formulierungen leicht zu verändern, um Verbote zu umgehen.
Weitere Informationen
Women Engage for a Common Future, WECF ist ein ökofeministisches Netzwerk von 150 Umwelt-, Gesundheits- und Frauen*organisationen in 50 Ländern, mit Sitz u.a. in München. Wir engagieren uns politisch u.a. für ein Verbot gesundheitsgefährdender Stoffe in Produkten und einer Kennzeichnungspflicht auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Solange sichere Regulierungen fehlen, informieren wir über Programme wie www.nestbau.info wie Verbraucher*innen sich besser vor Chemikalien schützen können. Unser Fokus liegt auf der Genderperspektive.
Kontakt | Johanna Hausmann, johanna.hausmann@wecf-consultant.org