Was hat Plastik mit Gender zu tun?
Erschienen im Rundbrief 1/2024 vom Forum Umwelt und Entwicklung unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0.
von Johanna Hausmann
Ein ökofeministischer Blick auf die Plastikkrise
Plastik ist von der Gewinnung fossiler Rohstoffe, über die Weiterverarbeitung und den Gebrauch bis hin zur Verwertung und Entsorgung höchst problematisch. Jede Phase des Plastikzyklus ist durch geschlechtsspezifische Erfahrungen und Betroffenheit, inklusive gesundheitlicher Folgen, gekennzeichnet. Hier spielen biologische Faktoren, gesellschaftliche Normen und Geschlechterrollen eine Rolle. Ein Blick auf den Zusammenhang von Gender und der Plastikproblematik lohnt sich, auch um sozial- und gendergerechte Lösungen zu entwickeln.
Dandora, Kenia: die größte Mülldeponie Afrikas am Stadtrand von Nairobi. Ein riesiger Abfallberg. 15 % Plastikmüll. Immer mehr Menschen, vor allem Frauen und Kinder, kommen nach Dandora auf der Suche nach Verwertbarem. Auf der Müllkippe herrscht eine Hierarchie: Männer bekommen die besten Waren, Frauen und Kinder weniger wertvolle. Wilfried ist 24 Jahre alt und „Wastepickerin“ (Müllsammlerin). Sie leidet unter Venenschmerzen und hat ebenso wie viele ihrer Kolleginnen Menstruationsblutungen, die länger als zwei Monate dauern. Ärzt:innen vermuten dahinter hormonelle Ursachen, auch wegen des ständigen Kontakts mit giftigem Rauch und gefährlichen Schadstoffen im Abfall, die die ganze Gegend verseuchen.[1]
Plastik: ein Gemisch aus Öl mit giftigen Zusatzstoffen
Zurück zum Anfang: 99 % der Kunststoffe und synthetischen Fasern werden aus Öl und Gas gewonnen. Kaum ein Plastikprodukt besteht nur aus seinen Grundstoffen. Chemische Additive wie Bisphenole, Flammschutzmittel, langlebige Fluorchemikalien (PFAS) und UV-Filter sorgen für gewünschte Eigenschaften. Weichmacher (Phthalate) verwandeln PVC in weiches Material für Fußböden und Planschbecken. Viele Additive sind krebserregend, hormonell wirksam und fruchtbarkeitsstörend. Auch die bewusste Zugabe von Mikroplastik, z.B. in Kosmetikprodukte stellt ein Gesundheitsrisiko dar.
Weil die Stoffe nicht fest im Plastik gebunden sind, reichern sie sich in der Umwelt an und gelangen, meist ohne unser Wissen, über Nahrung, Atmung und Haut in den Körper. Die Wissenschaft verknüpft Schadstoffe, besonders hormonell wirksame endokrine Disruptoren (EDCs), mit der Entstehung von Diabetes, Brust- und Hodenkrebs, neurologischen Schäden und Fruchtbarkeitsstörungen.
Wir alle sind mit Plastik-Chemikalien belastet, in Europa[2] und weltweit. Hier hat das Risikomanagement versagt. Besonders betroffen sind Menschen mit niedrigerem sozio-ökonomischem Status wie Communities of Colors, andere marginalisierte Gruppen und Frauen. Welche Faktoren bedingen diese (gender-)spezifischen Belastungsunterschiede?
Menschen sind unterschiedlich
Biologische Faktoren führen zu geschlechtsspezifischen Belastungen mit Plastik-Schadstoffen. Frauen haben dünnere Haut, wodurch Chemikalien leichter in den Körper gelangen. Aufgrund ihres höheren Gewebefettanteils reichern sich fettlösliche Chemikalien wie Weichmacher stärker an. Frauen reagieren sensibler auf Schadstoffe, besonders während hormongesteuerter Lebensphasen wie Pubertät, Monatszyklus, Schwangerschaft, Stillzeit und Menopause. In der Schwangerschaft und Stillzeit gelangt der Chemikalien-Cocktail über die Plazenta und die Muttermilch zum Kind, was gesundheitliche Folgen haben kann. Studien zeigen, dass Plazenten und Muttermilch mit Plastikschadstoffen belastet sind.[3] Diese besonderen biologischen Dispositionen müssen bei der Risikobewertung, bei Schutzmaßnahmen und in der Politik Beachtung finden.
Geschlechterspezifische Unterschiede am Arbeitsplatz
Schadstoffe sind für alle Menschen eine Gefahr. Ein Blick auf die Geschlechterverhältnisse des globalen Arbeitsmarkts zeigt jedoch, dass Frauen häufig in chemie- und kunststoffintensiven Industrien arbeiten, mit langen Arbeitszeiten, wo sie schlecht bezahlt und hohen Schadstoffbelastungen schutzlos und unwissend ausgesetzt sind. 70 % der Beschäftigten in der Textil- und Schuhindustrie weltweit sind Frauen. In den Fabriken sind sie permanent synthetischen Stoffen wie Acryl, Nylon und hochgiftigen Farbstoffen ausgesetzt. Auch in Bereichen wie der Pflege- und Hausarbeit ist der Frauenanteil hoch. Hier sind sie in ständigem Kontakt mit Chemikalien, z.B. in Reinigungsmitteln und Produkten wie Plastikhandschuhen. Frauen führen allerdings gesundheitliche Beschwerden selten auf die giftigen Plastik-Chemikalien zurück. Dazu fehlen ihnen die Information und damit das Bewusstsein für die Gefahr. Aufklärung ist daher sehr wichtig.
Gender, Konsum und Plastik
Einige Produkte mit hohem Kunststoffanteil werden bevorzugt von Frauen genutzt und setzen sie überproportional Gesundheitsrisiken aus. Menstruationsprodukte z.B. können bis zu 90 % aus Rohölkunststoffen bestehen und hormonell wirksame EDCs Bisphenol A und Bisphenol S enthalten. Frauen benutzen im Leben 125 bis 200 Kilogramm dieser Produkte. Die Nachfrage nach schadstofffreien, wiederverwertbaren Produkten wächst und fordert den Markt, diese bereitzustellen. Auch Kosmetika sind eine Quelle für Plastik-Schadstoffe. Sie enthalten bis zu 100 synthetische Chemikalien, viele sind gesundheitsschädlich. Frauen verwenden täglich doppelt so viele Produkte wie Männer. Dahinter stehen oft sozial konstruierte und von Industrie und Werbung geförderte Schönheitsnormen. Konsumverhalten kann Produktionspolitik beeinflussen. Für informierte Kaufentscheidungen braucht es jedoch eine verständliche Kennzeichnungspflicht für Schadstoffe in Produkten, wofür die Politik sorgen muss.
Am Ende des Zyklus: Abfallmanagement und Entsorgung gendergerecht?
Zurück in Dandora: Die Endphasen des Plastik-Lebenszyklus sind ein globales, eng mit bestehenden sozialen Ungleichheiten verknüpftes Problem. In ärmeren Ländern ist die Müllbeseitigung eine wichtige Einkommensquelle. Auch hier bleibt Frauen oft der Zugang zu den formalisierten, höher angesehenen Tätigkeiten und zu „besserem“ Plastik, z.B. PET verwehrt. Häufig sind sie rassistischen, sexistischen und sozialen Ausgrenzungen ausgesetzt. Millionen von Müllsammlerinnen wie Wilfried, häufig Frauen und Kinder ärmster Bevölkerungsschichten, verdienen an einem hochtoxischen Arbeitsplatz nicht selten das gesamte Familieneinkommen und riskieren ihre Gesundheit. Um z.B. an wertvolles Kupfer zu gelangen, verbrenne sie PVC-beschichtete Drähte. Dies setzt fortpflanzungsschädigende Dioxine frei, die Geburtsfehler und Krebs erzeugen können. Viele Müllsammler:innen werden keine 30 Jahre alt.
Frauen als Agents of Change
Der Anteil von Frauen, die im informellen Sektor arbeiten, steigt besorgniserregend. Anstrengungen für den Übergang zu sichereren und gesünderen Arbeitsplätzen sind dringend notwendig. Bei Studien von WECF u.a. in Kenia trafen wir viele Frauen, die aktiv mit viel Expertise und Mut gegen die Plastikbedrohung vorgehen. Sie gründen Unternehmen für schadstofffreie, natürliche Alternativen für Lebensmittelverpackungen, trainieren Frauen, sich gegen sexuelle Belästigungen zu wehren, unterstützen Wastepickerinnen dabei, sich in Gewerkschaften zu organisieren und schaffen Zugang zu Bildung. Solche Maßnahmen müssen auch von staatlicher Seite unterstützt werden, damit Frauen endlich gleichberechtigt in der Gesellschaft sind.
Die Plastikkrise ist eine der größten ökologischen Herausforderungen unserer Zeit. Sie untergräbt das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt und manifestiert Geschlechterungleichheiten und Diskriminierung.[4] Um sie effektiv zu bekämpfen, müssen Umwelt-, Gesundheits-, Gender- und intersektionale Aspekte miteinander verbunden werden und weibliche Erfahrungen und Bedürfnisse paritätisch einfließen. Frauen haben jedoch oft erschwerten Zugang zu Ressourcen, Finanzmitteln und sozialer Absicherung. Ihre Mehrfachbelastung durch unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit ist eine Hürde für Bildungserwerb und öffentliche Teilhabe. Noch sind sie dadurch in wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen unterrepräsentiert, was verhindert, dass sie ihre Perspektive einbringen. Wir setzen uns dafür ein, das zu ändern, denn wir wissen, dass es auch für die Lösung der Plastikkrise essenziell ist.
Eine gendergerechte Plastikpolitik
Wir brauchen eine gendergerechte Plastikpolitik, die allem voran der rasant zunehmenden Produktion von Plastik Einhalt gebietet, die auf Grundlage des Vorsorgeprinzips den Einsatz gefährlicher Chemikalien entlang des ganzen Lebenszyklus von Plastik verbietet und die endlich die Verursacher für Schäden ihrer profitorientierten Unternehmenspolitik zur Kasse bittet. Frauen (und Kinder) und Menschen in vulnerablen Situationen müssen die Norm für Risikobewertungen sein, und die Tatsache, dass wir zahllosen (Plastik-) Chemikalien gleichzeitig ausgesetzt sind, muss berücksichtigt werden. Viele Politikmaßnahmen und Regulierungen sind immer noch „genderblind“. Das derzeit verhandelte globale Abkommen zur Beendigung der Plastikverschmutzung bietet eine Chance, Genderaspekte zu integrieren.[5] Frauen müssen auf allen Entscheidungsebenen des Prozesses gleichberechtigt beteiligt sein, geschlechtsspezifische Daten erforscht und zugänglich gemacht werden. Es braucht Finanzierungsmechanismen, die bei der Umsetzung des Abkommen die gleiche Teilnahme von Frauen in Politikprozessen und Projekten gewährleisten. Die Schaffung eines Gender-Aktionsplans kann dafür die Grundlage sein.
Johanna Hausmann ist Senior Policy Advisor
und Koodinatorin der Abteilung Chemikalien
und Gesundheit für Women Engage for a
Common Future (WECF).
Disclaimer:
„Frauen“ und „Männer“ meint die binäre biologische Kategorie mit ihren genetischen Unterschieden hinsichtlich ihrer körperlichen Beschaffenheiten. Die hier beschriebenen Inhalte könnten auch andere Geschlechter bzw. Geschlechtsidentitäten betreffen. Hierfür liegen jedoch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. Deshalb betrachten wir hier die spezifische Auswirkungen der Plastikkrise auf Frauen.
[1] Mehr Information: WECF, 2023. Tackling Toxics. Case studies in Kenia & Tunesia.
[2] Human Biomonitoring for EU, 2023. https://www.hbm4eu.eu/
[3] Campen, Matthew, et al. 2024. Quantitation and identification of microplastics accumulation in human placental specimens using pyrolysis gas chromatography mass spectrometry.
[4] Heinrich Böll Stiftung, 2023. Globale Plastikverschmutzung stoppen. Feministische Perspektiven für geschlechtergerechte Ansätze zur Eindämmung der Plastikflut
[5] WECF, 2023. Gender Dimensions in the plastic crisis and a Global Plastic Treaty. https://www.wecf.org/de/wp-content/uploads/2018/10/Plastic-Treaty-Paper-WECF-060623.pdf