Wachstum, Handel, Nachhaltigkeit?

ein Artikel aus Die Geister, die wir riefen | Rundbrief des Forum Umwelt und Entwicklung (Hg.) | von dem Redaktionsteam des Rundbriefs

Die chemische Industrie in Deutschland steht vor einer Reihe gewaltiger Herausforderungen

Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist nach Autoindustrie und Maschinenbau der drittgrößte Sektor des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland. Neben ihrer wirtschaftlichen Bedeutung genießt die Branche vor allem in Form ihrer größten Akteure öffentliche Wahrnehmung, von Bayer-Monsanto bis BASF. Anders als aber beispielsweise über die Automobilindustrie wird hierzulande in der breiteren Öffentlichkeit kaum über die wirtschaftliche Zukunft der Branche diskutiert. Dabei steht sie vor ähnlich großen Herausforderungen und Aufgaben. Wie kann eine klimaneutrale chemische Industrie aussehen? Wie können die Risiken und Belastungen gemanagt werden, die von den Produkten und Verfahren der Branche ausgehen?

Von zahllosen Medikamenten über Pflanzenschutzmittel und Dünger bis hin zur Automobilherstellung und der Produktion von Textilien, Computern oder Verpackungen: Die chemische Industrie liefert Produkte für EndverbraucherInnen und für die Weiterverwendung, ohne die unsere moderne Gesellschaft kaum mehr auskommen würde. Das ist die Botschaft, die die chemische Industrie gerne vor sich herträgt. Tatsächlich werden mehr als 40.000 verschiedene Chemikalien gegenwärtig kommerziell gehandelt. Die chemische Industrie hat damit wichtige Beiträge zum wirtschaftlichen Wachstum und zum materiellen Wohlstand in Deutschland und weltweit geleistet. Aber eben auch zur Belastung praktisch aller Ökosysteme, sowie zum sich noch immer beschleunigenden Ressourcenverbrauch und als große Energieverbraucherin zum Klimawandel.

Die wirtschaftlichen Zahlen für die chemische Industrie global und in Deutschland sehen beindruckend aus. Zwischen 2000 und 2017 hat sich der mengenmäßige Ausstoß (pharmazeutische Produkte ausgenommen) von 1,2 auf 2,3 Milliarden Tonnen beinahe verdoppelt. 2017 hat die Industrie damit (wieder exklusive der pharmazeutischen Industrie) mehr als 3,47 Billionen US-Dollar an Umsätzen erwirtschaftet. Auch die Zahlen für Deutschland sind bemerkenswert. Im Jahr 2018 machten die Unternehmen der chemischen Industrie in Deutschland über 202 Milliarden Euro Umsätze (einschließlich der pharmazeutischen Industrie). Allein in Deutschland beschäftigt der Sektor mehr als 480.000 Personen. (1)

Herausforderungen in der globalisierten Wirtschaft

Die deutsche chemische Industrie ist stark in globalisierte Wertschöpfungsketten eingebunden. Trotzdem bleibe der Heimatstandort nach deren Angaben überproportional wichtig für die deutschen Unternehmen. Die starke „Heimatverbundenheit“ der chemischen Industrie, so die Message, sei durch ein sich veränderndes globales Umfeld aber immer stärker in Frage gestellt: Die Branche sieht sich unter anderem verstärkter internationaler Konkurrenz ausgesetzt, unter anderem aus China. Entsprechend sieht der Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI) Handlungsbedarf in der deutschen Politik. Ein Lieblingsthema des Interessenverbands ist dabei die „Modernisierung“ des deutschen Unternehmenssteuerrechts, natürlich mit dem Ziel niedrigerer Steuersätze. „Insbesondere überbordende Regelungen zur steuerlichen Gestaltungs- und Missbrauchsvermeidung waren es, die […] zu ungerechtfertigten und standortschädlichen Mehrbelastungen geführt haben.“ (2) Sprich: der Kampf gegen Steuervermeidung und -hinterziehung wird zum Wettbewerbsnachteil erklärt, obwohl deutsche Unternehmen dieses „Schicksal“ mit praktisch allen Konkurrenten teilen. Die Regeln werden im OECD Kontext abgestimmt. Die chemische Industrie wird in ihrer Argumentation vor allem getrieben von den gegenwärtig nicht eben rosigen Geschäftsaussichten. Von Juli bis September 2019 ist die Produktion in der Branche im Vergleich zum Vorquartal leicht gesunken (-0,6 Prozent), die Umsätze gaben sogar noch kräftiger nach (-2,4 Prozent), was mit sinkenden Weltmarktpreisen und schwächelnden Kundenindustrien zu tun hat, allen voran die Automobilbranche. (3)

Hausaufgaben in Sachen Nachhaltigkeit

Neben diesen ökonomischen Bedingungen sieht sich die chemische Industrie auch tiefgreifenden Veränderungen in ihren Geschäftsmodellen gegenüber. Das betrifft unter anderem die Klimawirksamkeit der chemischen Industrie und ihrer Produkte. Auf dem Weg zur nötigen Treibhausgasneutralität steht die chemische Industrie als energieintensive Branche vor großen Herausforderungen: Zum einen benötigen die verfügbaren modernen Verfahren viel Energie und erzeugen dadurch hohe CO2-Emissionen. Zum anderen sind auch einige ihrer Produkte emissionsrelevant. So gibt es einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Verbrauch von Stickstoffdüngern (einem der Produkte der chemischen Industrie) und Lachgaskonzentrationen in der Atmosphäre. Dieses N2O ist dabei 300-mal klimawirksamer als CO2. Die Konzentration des Spurengases ist von 1998 bis 2016 um mehr als ein Drittel gestiegen. (4)

Trotzdem halten WissenschaftlerInnen eine klimaneutrale chemische Industrie bis 2050 für möglich. In einer vom VCI Anfang Oktober 2019 vorgestellten Studie wird ein Pfad vorgezeichnet, der sowohl große Investitionen von ca. 45 Milliarden Euro, aber auch einen stark erhöhten Strombedarf erforderte.
Primär nötig sei also, die dadurch zu erwartenden Mehrkosten für die Industrie abzufedern und dafür zu sorgen, dass klimaneutral erzeugter Strom zu konkurrenzfähigen Preisen angeboten werde. (5) Kurz gesagt sollen die nötigen Investitionen sozialisiert und nachhaltige Energie nach Möglichkeit subventioniert werden – natürlich ohne dabei die Steuerlast für die Industrie zu erhöhen.

Die chemische Industrie steht darüber hinaus nicht nur dann in Sachen Umweltschutz im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, wenn durch unsachgemäßen Umgang oder Unfälle gefährliche Stoffe freigesetzt werden und nur schwer oder gar nicht wieder entfernt werden können. Tatsächlich ist beispielsweise die Umstellung der Kunststoffproduktion von der Gewinnung aus Primärrohstoffen hin zu einer Kreislaufwirtschaft eines der in der Branche am heißesten diskutierten Themen. Und es zeigt die ganze Vielfalt der verfolgten Ansätze: Während gerade größere Unternehmen an Verfahren arbeiten, mit denen Kunststoffe nicht durch das Umschmelzen, sondern durch energieintensives „chemisches Recycling“ wiederverwertet werden, setzt der Mittelständler Werner & Mertz dagegen auf seine Recyclat-Initiative. Darin geht es um die Verwertung tatsächlich anfallender Abfälle im Dualen System, was effizienter und gleichzeitig näher an einer tatsächlichen Kreislaufwirtschaft wäre. Nach eigenen Angaben hat das Unternehmen durch innovative Verfahren, die Mitstreiter*innen und sogar Konkurrent*innen im Rahmen eines „OpenInnovation-Prozesses“ zur Verfügung gestellt werden, so schon über 300 Millionen Flaschen aus Primärrohstoff eingespart. Weil das Verfahren allerdings marginal teurer ist als die Gewinnung aus Primärrohstoffen (Erdöl, das für die Plastikproduktion steuerlich subventioniert wird), zögert die Konkurrenz, sich das Verfahren zu eigen zu machen.

Das Beispiel zeigt, dass aller Bekenntnisse zur Kreislaufwirtschaft und zur Nachhaltigkeit zum Trotz noch immer die Gewinnmaximierung im Vordergrund steht. Entsprechend wäre es an der Politik, Rahmenbedingungen so zu setzen, dass nachhaltigere Methoden und unternehmerische Verantwortung nicht zum Wettbewerbsnachteil werden. Ansätze dafür wären eine Aufhebung der Steuerbefreiung von Mineralöl für die Kunststoffproduktion sowie verbindliche unternehmerische Sorgfaltspflichten entlang von globalen Wertschöpfungsketten.

Diese Schritte können national gegangen und dann auf höheren politischen Ebenen im Kontext der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen weiter vorangetrieben werden. Entsprechungen finden sich in der Handelspolitik, die eine komplette Neuausrichtung unter den Prämissen von Nachhaltigkeit, Menschenrechten und planetaren Grenzen braucht. Auch ist zu überdenken, ob Probleme wie Quasimonopole sowie eine sich weiter verstärkende vertikale Integration innerhalb der Branche nicht durch – auch rückwirkende – Entflechtung kartellrechtlich angegangen werden sollten. Ganz zentral muss es darum gehen, das Vorsorgeprinzip und das Prinzip der Verursacherhaftung, wie sie in globalen Abkommen für verschiedene Stoffgruppen vorgesehen sind, universell auszudehnen und auch im globalen Raum verbindlich durchzusetzen.

Redaktionsteam des Rundbriefs

(1) UNEP (2019): Global Chemicals Outlook II: From legacies to innovative solutions – Implementing the 2030 Agenda for Sustainable Development. Nairobi. Und VCI (2019a): Chemiewirtschaft in Zahlen. Frankfurt/Main, S. 32 und 54. https://www.vci.de/vci/downloads-vci/ publikation/chemiewirtschaft-in-zahlenprint.pdf.

(2) Vgl. Berthold Welling (2019): Schnelles Handeln der Bundesregierung gefragt. In: VCI Chemie Report 11/2019, S. 1f. https://www.vci.de/vci/downloads-vci/ publikation/chemie-report/2019-11-21chemie-report-11-2019.pdf.

(3) VCI (2019b): Keine Trendwende im Chemiegeschäft. In: VCI Chemie Report 11/2019, S. 15.

(4) https://www.nature.com/articles/ s41558-019-0613-7. 5 DECHEMA/FutureCamp (2019c): Roadmap Chemie 2050 – Auf dem Weg zu einer treibhausgasneutralen chemischen Industrie in Deutschland. München. https://www.vci.de/vci/ downloads-vci/publikation/2019-1009-studie-roadmap-chemie-2050treibhausgasneutralitaet.pdf.

Artikel als PDF