Stellungnahme deutscher NGOs zum Verhandlungsprozess für ein neues Abkommen zum nachhaltigen und giftfreien Umgang mit Chemikalien und Abfällen nach 2020 (SAICM Beyond 2020-Prozess)

Juli 2021

Die Zielmarke des globalen Abkommens „Strategischer Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement“ (Strategic Approach to International Chemicals Management, SAICM) war 2020 erreicht. SAICM hat dazu beigetragen, drängende chemikalienpolitische Problemfelder zu adressieren und den beteiligten Akteur:innen in diesem Multistakeholder- und Multisektor-Prozess eine wichtige Plattform gegeben. Die bisherigen konkreten Ergebnisse sind allerdings enttäuschend und unzureichend.

 

 

Die laufenden Verhandlungen für ein Nachfolgeabkommen zu SAICM (SAICM Beyond 2020) bieten nun die Möglichkeit, einen ehrgeizigen internationalen Rahmen für das globale Chemikalienmanagement zu entwickeln. Dieses muss in Einklang mit der globalen Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung darauf abzielen, schädliche Auswirkungen der Produktion und Verwendung von Chemikalien und chemischer Abfälle auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit zu minimieren, vom Rohstoffabbau bis zur Wiederverwertung und Entsorgung von chemischen Stoffen und daraus hergestellter Produkte.

Dafür ist es wichtig, den demokratischen und multisektoralen Charakter von SAICM zu erhalten und gleichzeitig sicherzustellen, dass ein SAICM Beyond 2020-Abkommen für ein umweltgerechtes, nachhaltiges und schadstofffreies Chemikalien- und Abfallmanagement die Möglichkeit enthält, rechtsverbindliche Elemente zu initiieren. Dabei sollte mittelfristig die Entwicklung eines übergreifenden globalen Rahmenabkommens in Betracht gezogen werden, das global gültige Prinzipien eines nachhaltigen Chemikalien-, Abfall- und Stoffstrommanagements verbindlich festlegt.

Der Verhandlungsprozess für das SAICM Beyond 2020-Abkommen hat sich aufgrund der COVID-19-Pandemie verzögert. Zwischenzeitlich haben im Rahmen des Intersessionalen Prozesses so genannte Virtual Working Groups (VWG) stattgefunden, um die Ausgestaltung des neuen Instruments weiter zu konkretisieren. Dabei waren die Teilnahmemöglichkeiten nicht für alle Stakeholder:innen bzw. nur unzureichend gewährleistet, sei es aus technischen Gründen, aufgrund der verschiedenen Zeitzonen oder mangelnder Kapazitäten. Eine gleichberechtigte Teilnahme aller Stakeholder:innen am Prozess, inklusive der Zivilgesellschaft, ist jedoch äußerst wichtig und dringend zu gewährleisten.

Geplant war, ein SAICM-Nachfolgeabkommen auf einer fünften Internationalen Konferenz zum Chemikalienmanagement (International Conference on Chemicals Management, ICCM) im Oktober 2020 in Bonn zu verabschieden. Diese Konferenz soll nun (Stand Juli 2021) 2023 in Bonn stattfinden.

Deutschland trägt aus zwei Gründen besondere Verantwortung in diesem Prozess: einmal als weltweit drittgrößter Standort der chemischen Industrie, und zum anderen, weil die Bundesregierung die SAICM-Präsidentschaft und damit bei der Weichenstellung für ein SAICM-Nachfolgeabkommen eine beson­dere Rolle innehat. Die Grundvoraussetzungen für ein erfolgreiches SAICM Beyond 2020-Abkommen sind die Anerkennung der Prinzipien der Vorsorge und Nachhaltigkeit, ambitionierte Zielsetzungen, die weitere Arbeit an anerkannten, bisher nicht nachhaltig gelösten dringenden Problemfeldern, den sogenannten Issues of Concern (IoCs), ehrgeizige, tragfähige Umsetzungs- und Überprüfungsmechanismen sowie eine verlässliche Finanzierung.

Ein solches Abkommen muss auf den Prinzipien und Werten beruhen, die in den relevanten globalen Abkommen der Vereinten Nationen verankert sind. Dazu gehören die Prinzipien der Rio-Deklaration zur Umwelt und Entwicklung, die Prinzipien der Agenda 2030, die Prinzipien und Ziele der rechtsverbindlichen Pakte über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, ebenso wie relevante Resolutionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Peking-Erklärung zur Gleichstellung der Geschlechter. Diese Grundrechte und Prinzipien sowie die Verpflichtung zu ihrer Verwirklichung und Berücksichtigung sind in ein SAICM Beyond 2020-Abkommen aufzunehmen. Regionale Vereinbarungen wie die Aarhus-Konvention, das Bamako-Übereinkommen und andere sind ebenfalls einzubeziehen.

Eine zentrale Bedeutung hat das Vorsorgeprinzip, festgehalten im Prinzip 15 der Rio-Deklaration, d.h. das Vermeiden und Beseitigen von Stoffen bei einem begründeten Verdacht auf eine umwelt- oder gesundheitsschädliche Wirkung. Dies sollte in einem künftigen Abkommen Priorität haben. Es muss ein klares Bekenntnis geben, sicheren, auch nicht-chemischen Methoden und Alternativen Vorrang einzuräumen, einschließlich der Agrarökologie und ökosystembasierter Ansätze für die Landwirtschaft. Vorsorgeprinzip und Verursacherprinzip sowie die Umkehr der Beweislast auf Produzent:innen und In-Verkehr-Bringer:innen, müssen in einem künftigen SAICM die Grundlage sein für eine klare Hierarchie, die Prävention an erste Stelle setzt, gefolgt vom Prinzip der Minimierung und Beseitigung von umwelt- und gesundheitsschädlichen Chemikalien.

Ein künftiger Nachfolgeprozess von SAICM sollte außerdem mit den Prinzipien der Geschlechtergleichstellung und der Stärkung von Frauen* und Mädchen* einhergehen. Eine Reihe von Frauen*- und Gender-Aspekten sind in den Abschlussberichten aller VWGs erwähnt. Allerdings fehlen immer noch ein klares Bekenntnis und eine Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter – der Begriff „Gender Equality“ wird noch in keinem der SAICM Beyond 2020-Dokumente erwähnt. Geschlechter- und Gendergerechtigkeit sollte ein wesentliches Element des neuen Abkommens sein, um auf die besondere Verletzbarkeit von Frauen*, Schwangeren und künftigen Generationen durch schädliche Chemikalien aufmerksam zu machen und dieser mit Schutz- und Präventivmaßnahmen adäquat zu begegnen. Instrumente können die Einrichtung von Gender Focal Points (GFPs) auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene, die Verabschiedung eines Gender-Aktionsplans (GAP) zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und die Finanzierung von Umsetzungsmaßnahmen zum Schutz von Frauen* vor chemischer Belastung sein.

Die Struktur eines zukünftigen SAICM sollte die Möglichkeit beinhalten, rechtsverbindliche Elemente festzulegen bzw. zu initiieren, auch für Chemikalien, die derzeit nicht durch bestehende Abkommen geregelt sind. Ein Beispiel für ein rechtsverbindliches Element wäre die Einleitung eines Prozesses zum Phase-out von hochgefährlichen Pestiziden (HHPs) in der Landwirtschaft, mit dem Ziel eines Verbotes dieser vergleichsweise kleinen Gruppe an besonders gefährlichen Pestiziden. HHPs wurden 2015 durch SAICM als Issue of Concern anerkannt. Entsprechend empfahl ICCM4 kooperative Maßnahmen, wobei nicht ein gefährliches Pestizid durch ein anderes ersetzt werden sollte, sondern der Schwerpunkt auf die Förderung agrarökologischer Alternativen gelegt werden solle. In einem zukünftigen SAICM sollte hierzu eine globale Allianz eingerichtet werden, in der Betroffene gleichberechtigte Mitwirkungsrechte erhalten. Sie wurde bereits im Abschlussdokument von ICCM4 angemahnt, nachdem über 60 Länder und Organisationen auf ICCM3 einen globalen Ausstieg aus HHPs gefordert hatten.

Bestehende und bei Bedarf weitere Issues of Concern müssen in die Ziele, Meilensteine und Aktionspläne aufgenommen werden. Die bereits festgelegten IoCs, wie bspw. hormonell schädliche Chemikalien (endocrine disrupting chemicals, EDC) und Chemikalien in Produkten (chemicals in products, CIP), müssen so lange weiterbearbeitet werden, bis sie gelöst sind. Sollte dies nicht gelingen, müssen diese IoCs auf einer Ebene mit größerer Verbindlichkeit behandelt werden. Wie dies umgesetzt werden kann, legt das NGO Papier New Mechanism of Action: criteria for elevation of obligations to progress SAICM Issues of Concern in the post 2020 multilateral regime for chemicals and waste dar.

Der Aufbau einer giftfreien Kreislaufwirtschaft, die diesen Namen auch verdient, ist wichtig, um eine ganze Reihe von Nachhaltigkeitszielen zu erreichen und erfordert die Eliminierung von Schadstoffen im gesamten Lebenszyklus von Produkten. Das zukünftige SAICM sollte sich auch auf dieses Ziel konzentrieren. Ein wichtiger Baustein ist dabei, Transparenz innerhalb und außerhalb der Lieferkette herzustellen. Weiterverarbeitende Betriebe, Verbraucher:innen, Regulator:innen und Abfallwirtschaft sind auf eine volle Deklaration der chemischen Inhaltsstoffe angewiesen, um eine giftfreie Kreislaufwirtschaft zu erreichen. Daher sollten für schädliche Chemikalien, die nicht sofort ersetzt werden können, rechtsverbindliche Transparenzkriterien eingeführt werden.

Nationale Aktionspläne (NAPs) sollten für jeden SAICM-Mitgliedstaat verbindlich sein und alle elf Kernelemente des SAICM Overall Guidance and Orientation-Dokuments aus dem Jahr 2008 abdecken. Es sollte über die jeweiligen Fortschritte und Probleme in der Umsetzung etwa bei der Lösung der IoCs berichtet werden. Wo nötig, sollten Länder bei der Erstellung und Verwirklichung solcher Pläne finanziell und technisch unterstützt werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben in der Vergangenheit wichtige Beiträge zur Entwicklung und Umsetzung von NAPs geleistet. Um eine sinnvolle Beteiligung der Zivilgesellschaft zu gewährleisten, ist es wichtig, deren gleichberechtigte Beteiligung und finanzielle Ausstattung sicherzustellen und klare Guidelines für die Zusammenarbeit zu definieren, etwa in Partnerschaften.

Präzise Berichterstattungs- und Bewertungsmechanismen sollten vorgeschrieben werden für eine bessere Umsetzung und Bewertung der Wirksamkeit beschlossener Maßnahmen. Definierte Aktivitäten und Ziele sollten SMART (Specific, Measurable, Accountable, Relevant and Time Bound) und wirkungsorientiert sein. Sie sollten außerdem unabhängige Berichte einschließen, bspw. in der Form von Peer Reviews oder sog. Schattenberichte aus der Zivilgesellschaft.

Ein solider Finanzierungsmechanismus ist notwendig, um SAICM Beyond 2020 zu implementieren. Dieser muss auf zwei Säulen aufbauen: Einmal müssen die Geberländer durch bestehende Mechanismen wie die Globale Umweltfazilität (Global Environment Facility, GEF), das Special Programme on Institutional Strengthening for the Chemicals Cluster des Umweltprogramms der Vereinten Nationen sowie neue Mechanismen, einschließlich bilateraler und multilateraler Partnerschaften, Entwicklungszusammenarbeit und andere Formen dazu beitragen, einen unabhängigen Finanzierungsmechanismus für eine gesundheits- und umweltfreundliche Chemikalien- und Abfallwirtschaft zu entwickeln. Dieser sollte auch die Förderung nicht chemischer Alternativen einschließen. Bei der Verteilung von verfügbaren und zusätzlichen finanziellen Ressourcen muss die Unterstützung der Entwicklungs- und Schwellenländer ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die bisher einen wesentlichen Beitrag zur Implementierung von SAICM geleistet haben, müssen einen unkomplizierten Zugang zu finanziellen Mitteln für konkrete Projekte analog zum ehemaligen Quick Start Programme erhalten.

Im Sinne des Verursacherprinzips müssen zudem diejenigen finanziell in die Pflicht genommen werden, deren Produkte und Produktionsweisen die Umwelt und die menschliche Gesundheit belasten, allen voran die chemische Industrie. Ein SAICM-Folgeabkommen sollte daher auch die Möglichkeit der Finanzierung und Lenkung durch eine Internalisierung externer Kosten nutzen. Wir unterstützen deshalb den Vorschlag einer globalen Steuer von 0,5% für Hersteller:innen auf den Produktionswert von Grundchemikalien. Mit diesen Geldern ließen sich etwa notwendige Infrastrukturen für ein nachhaltiges Chemikalien- und Abfallmanagement im globalen Süden aufbauen.

Ein neuer nachhaltiger Finanzierungsmechanismus basierend auf diesen beiden Säulen sollte sicherstellen, dass alle förderfähigen Interessengruppen, einschließlich zivilgesellschaftlicher Gruppen und Akteur:innen aus der Wissenschaft, in ihrer Arbeit finanziell unterstützt werden. Es sollten dafür auch Instrumente und Projekte der multi- und bilateralen Entwicklungszusammenarbeit genutzt und gestärkt werden.

Wenn Multi-Stakeholder-Partnerschaften aufgebaut werden, müssen eindeutige Leitlinien für solche Partnerschaften gelten. Diese Leitlinien sollten dazu dienen, Green Washing, eine Verwässerung von Rechten und Pflichten und einseitige Einflussnahme aufgrund ungleicher Kräfteverteilung zu vermeiden. Partnerschaften sollten integrativ und transparent sein, der Umsetzung international vereinbarter Ziele dienen, mit nationalem und Völkerrecht in Einklang stehen und internationale Ziele und Agenden wie bspw. die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung respektieren.

 

Unterzeichnet von

Ulrike Kallee und Manuel Fernández, BUND e. V. ulrike.kallee@bund.net, manuel.fernandez@bund.net

Wolfgang Obenland und Tom Kurz Forum Umwelt & Entwicklung, obenland@forumue.de, kurz@forumue.de

Alexandra Caterbow, HEJSupport, alexandra.caterbow@hej-support.org

Susan Haffmans und Susanne Smolka, PAN Germany, susan.haffmans@pan-germany.org, susanne.smolka@pan-germany.org

Johanna Hausmann und Sascha Gabizon, WECF, johanna.hausmann@wecf-consultant.org, sascha.gabizon@wecf.org

 

Weitere Informationen

BUND (2021): Nachhaltige Stoffpolitik zum Schutz von Klima und Biodiversität

Group of NGOs (2021): NGO-Submissions zu den Virtual Working Groups

HEJSupport et al. (2019): New Mechanism of Action: criteria for elevation of obligations to progress SAICM Issues of Concerns (IoCs) in the post 2020 multilateral regime for chemicals and waste

WECF (2021): Gendergerechte Chemikalienpolitik. Gemeinsam für eine giftfreie Zukunft

 

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