Was hat Plastik mit Gender zu tun? Ein ökofeministischer Blick auf die Plastikkrise, Gesundheitsgefahren und soziale Ungleichheiten
Von Johanna Hausmann. Das Original ist auf Englisch bei IPEN erschienen >>
Mehr als zehn Milliarden Tonnen Plastik wurden in den letzten 70 Jahren produziert – Tendenz steigend. Die Verschmutzung ganzer Ökosysteme weltweit mit Plastikmüll und die gesundheitliche Belastung durch Chemikalien sind die Folgen. Am 25. November 2024 beginnt in Busan, Korea, die voraussichtlich letzte und entscheidende Verhandlungsrunde (INC5) zur Verabschiedung eines globalen Abkommens zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung, geleitet vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). Ich möchte dies zum Anlass nehmen, einige Aspekte der Schnittstelle zwischen Gender und Plastik zu teilen.
Plastik ist aus unserem Leben kaum mehr wegzudenken. Bekleidung, Kosmetik, Menstruationsartikel, Spielzeug, Putzmittel, Elektrogeräte, Lebensmittelverpackung: fast überall stecken Kunststoffe drin. Die Kunststoffindustrie boomt. Dabei ist Plastik entlang seines ganzen Lebenszyklus, von der Gewinnung der fossilen Rohstoffe, über die Weiterverarbeitung, Produktherstellung und Nutzung bis zu dessen Verwertung und Entsorgung höchst problematisch. Und: jede Phase des Plastikzyklus ist durch unterschiedliche geschlechtsspezifische Erfahrungen und Betroffenheit, inklusive gesundheitlicher Folgen, gekennzeichnet. Hier spielen biologische Faktoren, gesellschaftliche Normen und Geschlechterrollen eine Rolle.
Zu Besuch bei Müllsammler*innen in Kenia
Und hier beginnt die Ungleichheit, denn es gibt eine Hierarchie auf der Mülldeponie: Die Männer bekommen die „besten Stücke“, Frauen und Kinder erhalten die weniger wertvollen.
Ortstermin Dandora, Kenia. Im Rahmen eines Projekts von WECF zu Gender und Chemikalien, besuchten wir Dandora, eine der größten Mülldeponien Afrikas am Stadtrand von Nairobi in Kenia. Auf dieser Deponie sind mindestens 15 Prozent des Mülls Plastik. Plastik, das auch aus Europa stammt. Menschen aus den nahegelegen Gemeinschaften, insbesondere Frauen und Kinder, durchstöbern den Abfall auf der Suche nach brauchbaren Recyclingmaterialien. Und hier beginnt die Ungleichheit, denn es gibt eine Hierarchie auf der Mülldeponie: Die Männer bekommen die „besten Stücke“, Frauen und Kinder erhalten die weniger wertvollen.
Wilfried, eine 24-jährige Müllsammlerin in Dandora, die mehr als zehn Stunden täglich auf der Deponie verbringt, um ihre Familie zu ernähren, erzählte uns, dass sie und ihre Kolleginnen unter Venenbeschwerden und Monatsblutungen leide, die länger als zwei Monate anhalten. Ärzte, die sie zu Rate gezogen hat, vermuten hormonelle Probleme aufgrund der ständigen Belastung durch giftigen Rauch und Schadstoffen im Abfall, die nicht nur das ganze Gebiet, das Wasser und Nahrungsmittel auf den Feldern kontaminieren, sondern eben auch die Frauen. Nicht nur diese letzte, sondern jede Phase des Kunststoffkreislaufs ist durch unterschiedliche geschlechtsspezifische Erfahrungen und Auswirkungen, einschließlich gesundheitlicher Folgen, gekennzeichnet.
Unser Dokumentarfilm „Tackling Toxics“ zeigt die Problematik der Plastikverschmutzung und Lösungsversuche.
Die Gifte der Fossilindustrie
99 Prozent des Plastiks stammen aus fossilen Brennstoffen. Neben dem erheblichen Klimaschaden schädigt die Ausweitung der fossilen Brennstoffindustrie, die oft in ärmeren Gegenden angesiedelt ist, die Ökosysteme, verschärft Machtungleichgewichte und marginalisiert Frauen sowie benachteiligte Gruppen. Frauen sind unverhältnismäßig stark von den Folgen betroffen, wie etwa Einkommensverlust in der Landwirtschaft und eine Zunahme der Pflegearbeit aufgrund der vielen Krankheitsfälle in den Familien, die durch die massive Umweltverschmutzung entstehen. Während Männer sich neue Rollen im fossilen Brennstoffsektor sichern, erhalten Frauen nur 20 Prozent dieser Arbeitsplätze.
Frauen, die einen bedeutenden Teil der Weltbevölkerung ausmachen, tragen oft die Hauptlast der schädlichen Auswirkungen der Plastikverschmutzung. Bis zu 14.000 Chemikalien kommen in Plastik zum Einsatz, von denen mehr als 4.000 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) als bedenklich eingestuft wird – wobei nur die Hälfte der 14.000 Chemikalien geprüft ist. Plastikchemikalien wie Phthalate (Weichmacher), PFAS, so genannte Ewigkeitschemikalien und Bisphenol A (BPA), der Grundstoff für Carbon Kunststoffe, wurden in alarmierenden Konzentrationen bei Frauen, einschließlich schwangeren Frauen, nachgewiesen. Die Zunahme von Krankheiten wie Diabetes, neurologischen Störungen, Fruchtbarkeitsprobleme, frühzeitige Pubertät, Asthma, Immunstörungen und Brustkrebs bringt die Wissenschaft mit diesen Substanzen in Verbindung.
Frauen verstoffwechseln Chemikalien anders, ihre dünnere Haut ermöglicht es Chemikalien, leichter in den Körper einzudringen, und fettlösliche Toxine können aufgrund eines höheren Fettgewebsanteils des weiblichen Körpers stärker akkumulieren und so beispielsweise ihre östrogene Wirkung wie von BPA entfalten.
Um die geschlechtsspezifischen Unterschiede der Belastung zu verstehen, ist es entscheidend, Faktoren zu identifizieren, die eben diesen Unterschied machen. Biologische Faktoren führen beispielsweise zu unterschiedlichen Belastungen gegenüber Plastikschadstoffen. Frauen verstoffwechseln Chemikalien anders, ihre dünnere Haut ermöglicht es Chemikalien, leichter in den Körper einzudringen, und fettlösliche Toxine können aufgrund eines höheren Fettgewebsanteils des weiblichen Körpers stärker akkumulieren und so beispielsweise ihre östrogene Wirkung wie von BPA entfalten. Wenn Frauen schwanger werden, steigt das Risiko auch für zukünftige Generationen, Studien haben gezeigt, dass werdende Mütter ihren Chemikalien-Cocktail über die Plazenta an das Kind weitergeben. Die meisten Kinder kommen bereits vorbelastet zur Welt.
Schutzkleidung nur für Männer
Am Arbeitsplatz haben Frauen ein erhöhtes Risiko, schädlichen Plastikchemikalien ausgesetzt zu sein. Zusätzlich zu langen Arbeitszeiten, niedrigen Löhnen und der unwissentlichen Exposition gegenüber hohen Schadstoffkonzentrationen mangels Aufklärung fehlt es häufig and Schutzmaßnahmen, da Schutzkleidung oft nur für Männer vorhanden ist. Die Mehrheit der Arbeitskräfte in chemikalien- und plastikkontaminierten Industrien wie zum Beispiel Textilindustrie, einer der schmutzigsten Industrien überhaupt, sind Frauen. Auch im „Abfallmanagement“ (einschließlich des informellen Sektors) ist der Anteil von Frauen sehr hoch. Pflegekräfte, ebenfalls ein typischer Frauenberuf, kommen ebenfalls verstärkt mit Plastikartikeln in Kontakt und sind so Gesundheitsgefahren ausgesetzt. Frauen, die immer noch überwiegend für Haushalt und Pflege verantwortlich sind, sind stärker den synthetischen Chemikalien in Reinigungsmitteln ausgesetzt.
Die Mehrheit der Arbeitskräfte in chemikalien- und plastikkontaminierten Industrien wie zum Beispiel Textilindustrie, einer der schmutzigsten Industrien überhaupt, sind Frauen.
Das Wissen über diese Gefahren ist gering, weil Informationen zu Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz fehlen. Krankheiten oder auch Fehlgeburten, die vermehrt bei Frauen in der Kunststoffindustrie auftreten, werden häufig von den Frauen nicht mit ihrer Belastung am Arbeitsplatz in Zusammenhang gebracht. Die Internationale Arbeitsorganisation der UN, ILO, bestätigt in einem Bericht mit Sorge die zunehmende Belastung durch Schadstoffe, besonders von Frauen.
Schädliche Schönheitsideale
Auch die geschlechtsspezifische Nutzung und der Konsum von Plastikprodukten führt dazu, dass Frauen verstärkt bestimmten Gesundheitsrisiken durch Plastik ausgesetzt sind. Beispielsweise können Menstruationsprodukte bis zu 90 Prozent aus erdölbasiertem Plastik bestehen, inklusive all der schädliche Chemikalien, die Plastik enthält. Der höhere Konsum von Frauen an Kosmetikprodukten, die zahlreiche Chemikalien enthalten – nicht zuletzt beeinflusst von gesellschaftlichen Schönheitsnormen – verdeutlicht, wie wichtig es ist, klare Kennzeichnung der Inhaltsstoffe und damit verbundener Gesundheitsgefahren zu haben, um informierte Kaufentscheidungen treffen und sich besser vor Schadstoffen schützen zu können. Aus diesem Grund arbeiten wir von WECF an der Sensibilisierung von Verbraucher*inen für Chemikalien in Produkten, z.B. für eine schadstofffreie und plastikarme Menstruation, und informieren Verbraucher*innen, insbesondere Frauen und junge Eltern in unserem Nestbau-Programm darüber, wie sie Plastik im Alltag vermeiden können.
Menstruationsprodukte können bis zu 90 Prozent aus erdölbasiertem Plastik bestehen, inklusive all der schädliche Chemikalien, die Plastik enthält.
Die genannten biologischen, arbeitsplatzbezogenen, konsumbezogenen und sozialen Geschlechterunterschiede müssen bei der Datenerhebung, Toxikologie, Risikobewertung, Schutzmaßnahmen und der Politikgestaltung im Zusammenhang mit den Gefahren, die von Plastik ausgehen, berücksichtigt werden.
Plastikverschmutzung ist nicht nur eine Umweltkrise – sondern auch ein Geschlechterproblem
Zurück in Dandora: Die letzte Phase des Plastikzyklus, dann, wenn Plastik zu Müll wird, sind ein globales Problem, das eng mit bestehenden sozialen Ungleichheiten verbunden ist. Millionen von weiblichen Müllsammlerinnen wie Wilfried verdienen ihren Lebensunterhalt in einer hochgiftigen Umgebung, die das gesamte Ökosystem kontaminiert und ihre Gesundheit gefährdet. Oft sind jedoch diese Jobs im informellen Sektor ohne Rechte und Schutzvorkehrungen die einzige Einkommensquelle für die Familie. In unseren Gesprächen mit den Müllsammler*innen erfuhren wir, dass viele nicht älter als 30 Jahre werden. In vielen Familien des globalen Südens fehlt Geld für Bildung und nach wie vor sind es die Mädchen, denen der Zugang zum Schulbesuch und Ausbildung verwehrt bleibt. Die zunehmende Zahl schlecht ausgebildeter Frauen, die im informellen Sektor ohne Schutzmaßnahmen arbeiten, um das Überleben ihrer Familien zu sichern, ist alarmierend.
In unseren Gesprächen mit den Müllsammler*innen erfuhren wir, dass viele nicht älter als 30 Jahre werden.
Die erste Priorität muss es sein, Frauen aus Arbeitsplätzen zu holen, bei denen sie zahllosen Schadstoffen aus Plastik ausgesetzt sind und ihre Gesundheit auf‘s Spiel setzen. Gleiche Bildung ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Was wir sehen können: Plastikverschmutzung ist nicht nur eine Umweltkrise; es ist auch ein Geschlechterproblem, das Frauen und marginalisierte Gemeinschaften weltweit unverhältnismäßig stark betrifft. Die geschlechtsspezifischen Dimensionen der Plastikkrise erfordern einen vielschichtigen Ansatz, der Umwelt-, Gesundheits- und Geschlechtsaspekte integriert. Initiativen zur Förderung sicherer Arbeitsbedingungen für Frauen müssen unterstützt werden.
Für ein geschlechtergerechtes Plastikabkommen
In unseren Studien in Kenia und anderen Ländern haben wir aber auch zahlreiche Frauen getroffen, die aktiv gegen die Plastikbedrohung kämpfen und ihr Wissen und ihren Mut einbringen. Sie entwickeln ungiftige, natürliche Alternativen für die Lebensmittelverpackung, stärken Frauen im Kampf gegen sexuelle Belästigung, helfen Müllsammler*innen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und fördern den Zugang zu Bildung. Sie setzen sich für den Wandel zu sicheren und gesunden Arbeitsplätzen ein und benötigen unsere Unterstützung.
Die weltweiten Bemühungen im Kampf gegen die Plastikflut der Zivilgesellschaft haben Fortschritte gemacht. Um jedoch die Plastikkrise in all ihren Aspekten wirksam in den Griff zu bekommen, ist politisches Handeln erforderlich. Ein starkes globaler Abkommen zur Beendigung der Plastikverschmutzung könnte ein Meilenstein sein. Dazu muss das Abkommen die Plastikproduktion einschränken, den Einsatz schädlicher Chemikalien regulieren und verbieten und sicherstellen, dass die Industrien mit einer rein gewinnorientierten Unternehmenspolitik für verursachte Schäden zur Verantwortung gezogen werden.
Genderaspekte müssen eine zentrale Rolle in diesem Abkommen spielen. Viele politische Prozesse berücksichtigen immer noch nicht die unterschiedlichen Auswirkungen und Bedürfnisse verschiedener Geschlechter und marginalisierter Gruppen. Genderaspekte sind von entscheidender Bedeutung, wobei die aktive Beteiligung von Frauen, geschlechtsspezifische Daten und finanzielle Unterstützung für einen geschlechtergerechten Ansatz unerlässlich sind. Ein Gender-Aktionsplan kann diese Bemühungen unterstützen. Dafür setzen wir uns in den Verhandlungen zum Vertrag gemeinsam mit unseren Partnern ein.
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