Harte Zeiten für die Menschenrechte
Autor: Dr. Christian Salazar Volkmann (er/ihm)
Wir leben in harten Zeiten. Seit einigen Jahren ist ein globaler Prozess im Gange, der die internationalen Normen und Grundsätze untergräbt, die in den internationalen Menschenrechten und im humanitären Recht verankert sind. Dieser Rückschritt hat viele Aspekte, von denen ich Ihnen einige kurz erläutern möchte.
Erstens: Wir erleben eine deutliche Zunahme von globalen Konflikten.
Konflikte haben allein in den letzten fünf Jahren um das 2,5-fache zugenommen und etwas ein achtel der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Konfliktgebieten (Armed Conflict and Event Data (ACLED): Conflict Index 2024). In unserer heutigen Welt geht diese wachsende Zahl von Konflikten fast immer mit massiven und ungestraften Verstößen gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht einher. Es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen wir diese eklatante Missachtung internationaler Normen durch bewaffnete staatliche und nicht-staatliche Akteur:innen mit Sorge beobachten können, wie zum Bespiel im Gazastreifen, in der Ukraine, im Sudan, in der Demokratischen Republik Kongo (DRK), in Haiti usw.
Das ist insbesondere für marginalisierte und gefährdete Bevölkerungsgruppen problematisch, die eigentlich durch internationale Menschenrechte und humanitäre Gesetze geschützt werden sollten. Sie sind es, die am stärksten betroffen sind, wenn internationale Normen missachtet und internationales Recht gebrochen werden.
Zweitens: Autoritäre Regierungen sind auf dem Vormarsch und zivilgesellschaftliche Räume schrumpfen.
Regierungen in allen (!) Kontinenten haben neue Gesetze oder Verordnungen erlassen, die darauf abzielen, zivilgesellschaftliche Organisationen (CSOs) zu kontrollieren. Beispiele hierfür sind unter anderem:
- Gesetze über die ausländische Finanzierung von NROs, wie in Russland oder Georgien.
- Sogenannte “Cyberspace-Gesetze”, die die angebliche Diffamierung von Regierungsvertreter:innen in den sozialen Medien nutzen, um Oppositionskräfte, Journalist:innen, Blogger:innen und Menschenrechtsaktivist:innen zu verfolgen, wie dies in Tunesien der Fall ist.
- Die eklatante Schließung von NROs und der Entzug der Staatsbürgerschaft für alle Arten von kritischen Personen in Nicaragua, wo die Regierung seit 2018 über 5600 zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen hat.
Mit anderen Worten: Autoritäre Regierungen gehen überall zunehmend gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien vor, um grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung oder das Recht auf friedlichen Protest einzuschränken.
Drittens: Wir beobachten Angriffe auf die Gleichstellung der Geschlechter, die Rechte von Frauen und die Rechte von LGBTQI+.
Reaktionäre Kräfte in praktisch allen Regionen der Welt lancieren systematisch aggressive geschlechter- und homophobe Narrative, die die Gleichstellung der Geschlechter als “Gender-Ideologie” oder als Aufzwingen kultureller Normen aus dem “dekadenten” globalen Norden diskreditieren. Dies ist kein neues Phänomen. Aber in den letzten Jahren haben solche Narrative erheblich an Boden gewonnen und bedrohen die hart erkämpften Fortschritte bei den Rechten von Frauen und genderdiversen Menschen sowie der Gleichstellung der Geschlechter.
Es gibt viele Beispiele aus allen Kontinenten für diesen gefährlichen Rückschritt. Der Generalangriff auf die Gleichstellung der Geschlechter untergräbt eindeutig die laufenden Bemühungen zur Gewährleistung der Menschenrechte und erschwert die Überwindung einiger der eklatantesten Menschenrechtsverletzungen, wie zum Beispiel die skandalöse Tatsache, dass alle zehn Minuten eine Frau oder ein Mädchen von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet wird (UN Women: UNODC: Femizide im Jahr 2023: Globale Schätzungen der Femizide durch Intimpartner/Familienmitglieder. 2024), oder dass Hassverbrechen in ihrer brutalsten Form in vielen Ländern gegen Mitglieder der LGBTQI+-Gemeinschaft fortgesetzt werden. Der Anti-Rechts- und Anti-Gender-Diskurs wird von einer Reihe von Ländern angeheizt, die Homosexualität kriminalisieren und Strafen verschärfen, wie z.B. in Uganda, das 2024 ein Anti-Homosexuellen-Gesetz verabschiedet hat, welches die Todesstrafe vorsieht.
Mit anderen Worten: Die Zunahme geschlechterfeindlicher Narrative begünstigt ein gesellschaftliches Klima, in dem politische Gewalt und Hassreden gegen Frauen, Mädchen und genderdiverse Menschen, gegen Ausländer:innen, Migrant:innen, Asylbewerber:innen oder ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten gedeihen. So wurden beispielsweise bei vielen lateinamerikanischen Wahlen in den letzten vier bis fünf Jahren zahlreiche misogyne verbale und körperliche Angriffe gegen weibliche Kandidat:innen registriert. Und in Indien nahmen Hassreden gegen Minderheiten allein im Jahr 2024 um 74 % zu. (India Hate Lab: Hate Speech events in India. Report 2024)
Der Rückschlag gegen die Geschlechtergerechtigkeit ist nicht nur Ausdruck einiger radikaler lokaler frauenfeindlicher Gruppen in der Gesellschaft, sondern hat sich zu einem politischen Phänomen mit Auswirkungen auf die multilateralen Beziehungen zwischen den Ländern entwickelt.
Regierungen in Ländern wie Russland, Iran und viele andere versuchen, Formulierungen in internationalen Resolutionen oder Abkommen zu streichen, die sich auf die Gleichstellung der Geschlechter, die reproduktiven Rechte oder die Rechte von LGBTQ+-Personen beziehen. Damit untergraben sie den internationalen Schutz der Menschenrechte in diesen Bereichen. Die jüngsten Schreiben der US-Regierung an den Exekutivrat von UNICEF oder an die Exekutivdirektorin von UN Women, die sich gegen Formulierungen richten, die die Gleichstellung der Geschlechter unterstreichen, weisen in die gleiche Richtung.
Menschenrechte & Was kommen mag: Der Blick nach vorn
Der aggressiv Druck auf die Menschenrechte und das humanitären Völkerrechts geht einher mit einer kontinuierlichen Zunahme der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Welt sowie mit einem Wiederaufleben des Kulturrelativismus (d. h. der Leugnung der Idee, dass die Menschenrechte universell sind, und der Behauptung, dass ihre Gültigkeit von den Traditionen der einzelnen Länder abhängt) in den nationalen und internationalen Menschenrechtsdiskursen. Das macht die Verteidigung der universellen Menschenrechte und den Schutz von Gruppen in gefährdeten Positionen noch schwieriger.
Die jüngsten Maßnahmen der neuen US-Regierung beschleunigen diese Trends und ermutigen so jene Akteur:innen, die überall auf der Welt versuchen, internationale Normen und Standards zu schwächen. Es gibt so viele Beispiele aus den letzten Wochen, dass es unmöglich ist, sie alle in einem kurzen Artikel wie diesem zu erwähnen:
- der Ausstieg aus dem Pariser Klima-Abkommen, der Weltgesundheitsorganisation, des UNRAW und des UN-Menschenrechtsrats;
- die Schließung von USAID und das abrupte Einfrieren der internationalen Entwicklungshilfe;
- die Ankündigung von Sanktionen gegen Mitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs und ihre Familien in Fällen von Ermittlungen gegen US-Bürger:innen,
- der Ausschluss von Transpersonen aus dem Sport und dem Militär oder
- die aggressive Durchsetzung einer repressiven Migrationspolitik;
Die Liste geht weiter und weiter und weiter.
Wie dem auch sei – es gibt auch einige positive Entwicklungen, die zeigen, dass Fortschritt möglich ist, trotz aller Widrigkeiten.
Auf internationaler Ebene befindet sich die Universelle Periodische Berichterstattung (Universal Periodic Review, UPR) ueber die Lage der Menschenrechte, bei der die Mitgliedstaaten gegenseitig die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Ländern überprüfen, in ihrem vierten Berichtszyklus und funktioniert immer noch gut. 2025 werden 14 Länder überprüft, oft unter enger Einbeziehung der Zivilgesellschaft und UN-Organisationen.
Das Menschenrecht auf eine saubere und gesunde Umwelt wurde vom UN-Menschenrechtsrat im Jahr 2021 festgeschrieben und das Mandat eines:einer UN-Sonderberichterstatter:in für Umwelt – derzeit Astrid Puentes Riano aus Kolumbien – wurde gestärkt.
Die Regierungen Lateinamerikas und der Karibik haben die Arbeit des UN-Hochkommissars für Menschenrechte unterstützt: Die Regierungen der Karibik haben sich einstimmig für die Einrichtung eines Regionalbüros des Hohen Kommissars in der Karibik im Jahr 2024 ausgesprochen. Ebenso haben sich erst kürzlich die Vertreter:innen der lateinamerikanischen und karibischen Staaten bei den Vereinten Nationen in New York für eine Aufwertung des Regionalbüros für ihre Regionen eingesetzt.
Außerdem gibt es noch viele Beispiele in Ländern, in denen Fortschritte erzielt wurden:
- Kolumbien ratifizierte den regionalen Escazu-Vertrag – Acuerdo regional sobre el Acceso a la Informacion, la Participacion Publica y el Acceso a la Justicia en Asuntos Ambientales en America Latina y el Caribe – zum Schutz von Umweltaktivist:innen,
- Mexiko hat sein Sozialschutzsystem gestärkt,
- Simbabwe hat die Todesstrafe abgeschafft,
- Indonesien hat Maßnahmen zum Schutz der Studentenpresse vor Einschüchterungsversuchen ergriffen
- und in Nepal hat der Oberste Gerichtshof die Rechte von Transmenschen gestärkt.
Schlussfolgerungen: Der Einsatz für Frauen- und Menschenrechte ist das Gebot der Stunde.
- Die Normen und Grundsätze der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts werden angegriffen und die normativen Strukturen, die die Welt zusammenhalten, werden geschwächt. Daher ist es unerlässlich, dass alle Kräfte, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzen, zusammenarbeiten und Allianzen bilden, um das internationale Menschenrechtssystem und das humanitäre Völkerrecht zu verteidigen.
- Der Aufstieg autoritärer Regierungen und die Schließung zivilgesellschaftlicher Räume führen zu einer wachsenden Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger:innen und Aktivist:innen der Zivilgesellschaft. Daher ist es zwingend erforderlich, dass die Zivilgesellschaft, wohlmeinende Regierungen und multilaterale Institutionen zusammenarbeiten, um die nationalen und internationalen Systeme zum Schutz von Menschenrechtsaktivist:innen zu stärken, insbesondere von jenen, die sich in den Bereichen Umwelt und Feminismus engagieren.
- Auch wenn die weltweite politische Polarisierung und die wirtschaftlichen Konflikte anhalten werden, gibt es auf nationaler und lokaler Ebene Räume, in denen Fortschritte bei der Umsetzung von Menschenrechten und der Gleichstellung der Geschlechter möglich sind. Daher ist es wichtig, weiterhin solche Räume für nationalen und lokalen Fortschritt zu identifizieren und sie in jedem Land und in jeder Gemeinschaft, in der dies möglich ist, zu stärken und zu verteidigen.
- Für multilaterale Organisationen, wie die UNO und die EU, sowie für einzelne Staaten und private Spender:innen ist es zwingend erforderlich, der Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivist:innn in allen Lebensbereichen Vorrang einzuräumen, um zivilgesellschaftliche Räume zu verteidigen. Dies ist eine dringende Notwendigkeit, um die massiven Budgetkürzungen zu kompensieren, die Regierungen wie die der USA und der Niederlande vorgenommen haben oder die im Zuge der massiven Rüstungsspirale, die wir erleben, noch kommen werden.
Es gäbe noch viel mehr zu sagen, denn die Angriffe gegen die Menschenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter sind so häufig, groß und intensiv, dass sie fast täglich Schockwellen in die Gesellschaft – und insbesondere die Gemeinschaft der Aktivist:innen und Menschenrechtsverteidiger: innen – senden.
Zugleich wird eine Einsicht mit jedem Tag klarer: In unserer heutigen Welt ist der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter und für Umweltgerechtigkeit zur Frontlinie bei der Verteidigung der Menschenrechte überhaupt geworden.
Mit anderen Worten: Diejenigen, die sich heute in den Bereichen Feminismus, Klimagerechtigkeit und sozialer Aktivismus engagieren, verteidigen diese gerechten Anliegen nicht nur für sich selbst und ihre direkte Wählerschaft. Sie stehen an der Spitze der Verteidigung der Menschenwürde aller Menschen – gegen Kräfte, die versuchen, Minderheiten und schwache Bevölkerungsgruppen überall zu verletzen; gegen Kräfte, die die Zeit zu einem unhinterfragten Patriarchats zurückdrehen wollen; gegen Kräfte, die nach einer Welt der ungehinderten Ausbeutung der Umwelt und einer undemokratische Gesellschaft streben und eine Kultur des Mobbings und der Diskriminierung etablieren wollen.
Das können wir nicht zulassen. Wir müssen uns solchen Rückschritten mutig entgegenstellen und weiter für die Achtung der Menschenrechte in einer ökofeministischen Zukunft kämpfen. Dies ist das Gebot der Stunde.
Über den Autor:
Dr. Christian Salazar Volkmann (er/ihm) ist ein Experte für Menschenrechte und Entwicklungszusammenarbeit mit mehr als drei Jahrzehnten globaler Erfahrung. Zuletzt war er als Direktor für Feldoperationen und technische Zusammenarbeit beim UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) tätig, wo er Ländereinsätze in rund 100 Ländern beaufsichtigte und wichtige Rechenschaftsmechanismen wie UN-Ermittlungsmissionen und Untersuchungskommissionen unterstützte. Davor arbeitete er als Regionaldirektor für Lateinamerika und die Karibik im UN Büro für Entwicklungskoordinierung (DCO) sowie als UN-Koordinator und UNDP Repräsentant in El Salvador und Belize. Weiterhin war er stellvertretender Programmdirektor in der UNICEF-Zentrale in New York, Repräsentant des Hohen Kommissars für Menschenrechte in Kolumbien sowie in verschiedenen Führungspositionen bei UNICEF und der GIZ aktiv. Christian hat einen Doktortitel in Politikwissenschaft von der Universität Marburg und einen Magister in Kommunikation, Wirtschaft und Philosophie von der Ruhr-Universität Bochum. Er hat zahlreiche Publikationen zu Menschenrechten und Entwicklung veröffentlicht und zahlreiche Vorträge an anerkannten akademischen Einrichtungen gehalten.