Gender und Energiearmut? Ein Blick auf genderspezifische Risiken und Lebensrealitäten

Wir haben im Auftrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (European Economic and Social Committee, EESC) eine Studie zu geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselten Daten zu Energiearmut durchgeführt. Diese wurde in Form eines Berichts unter dem Titel „Study on gender-disaggregated data on energy poverty“ Anfang Mai 2024 veröffentlicht.  

Im Großen und Ganzen zielt die Studie darauf ab, die strukturellen Mechanismen, welche Energiearmut bedingen zu ermitteln und zu verstehen und dabei ihre genderspezifischen Dimensionen hervorzuheben. Außerdem wird der aktuelle Mangel an genderspezifisch aufgeschlüsselten Daten auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten aufgezeigt und diesen entgegengewirkt. Die Studie trägt somit zur Entwicklung inklusiver und wirksamer Handlungsansätze für Risikogruppen von Energiearmut bei.

Forschungsaufbau

Wir analysieren Energiearmut in der Studie mithilfe eines intersektionalen Ansatzes als Ausdruck bestehender genderspezifischer Ungleichheiten, Rollen und Aufgabenteilung. Zur Untersuchung der Fragestellungen haben wir zunächst eine wissenschaftliche Literatur- und Politikanalyse auf EU-Ebene und der Mitgliedstaaten erstellt. Darauf aufbauend haben wir eine eigene qualitative Forschung anhand von 33 halbstrukturierten Interviews in den Forschungsländern Litauen, Deutschland, der Republik Irland, Spanien, Kroatien, der Republik Zypern und Bulgarien durchgeführt. Innerhalb des Forschungszeitraums waren wir drei Mal vor Ort in Bulgarien, Spanien und Deutschland und haben, neben den Interviews, eine Veranstaltung zu Energiearmut und Intersektionalität besucht. 

Ergebnisse

Grundsätzlich können wir auf der Basis unserer Ergebnisse festhalten, dass Energiearmut zunehmend in die Beschlüsse der Europäischen Kommission integriert wird und auch in der akademischen Debatte immer mehr Eingang findet. Die Bedeutung gendersensibler und intersektionaler Ansätze wird dabei zwar teilweise erkannt und von unterschiedlichen EU-Institutionen betont, wird in politischen Beschlüssen jedoch kaum umgesetzt. Besonders nach Bevölkerungsgruppen und unterschiedlichen Marginalisierungsmerkmalen differenzierte Maßnahmen und Gender Mainstreaming sind in den politischen Dokumenten einiger der untersuchten Mitgliedstaaten kaum oder gar nicht vorhanden. So beinhalten nur der spanische nationale Energie- und Klimaplan (NECP) einen intersektionalen und genderspezifischen Ansatz, während die Republik Irland zumindest alters- und gesundheitsbezogene Aspekte berücksichtigt. Andere Programme nehmen, wenn überhaupt, Bezug auf „einkommensschwache“ oder „verletzliche“ Bevölkerungsgruppen auf Haushaltsebene und werden damit den strukturellen Faktoren, die Energiearmut auf individueller Ebene begünstigen, nicht gerecht.  

Um diese Faktoren tiefergehend zu erforschen, verfolgen wir in der Studie zunächst eine Risikoperspektive. Wir untersuchen „Welche intersektionalen Strukturen und Ungleichheiten begünstigen das Risiko, von Energiearmut betroffen zu sein?“. Da Gender hier noch keine weit verbreitete Analysekategorie darstellt, machen wir in der Studie intersektional-mehrdimensionale Risikofaktoren sichtbar und untersuchen z.B. „Wie beeinflussen Alter und Einkommensungleichheit das Risiko für Energiearmut, wie die Haushaltsstruktur oder Wohnqualität?“. Es zeigt sich, dass vor allem Frauen über 65 Jahre und in Rente lebend, ein erhebliches Risiko aufweisen, an Energiearmut zu leiden. Wenn wir neben den strukturellen Ungleichheiten durch Alter, Gesundheit und Einkommensschwäche – bedingt durch die historische Gender-Pay und Gender-Pension-Gap – noch den Zustand der Gebäude in Betracht ziehen, zeigen sich weitere Risikoachsen. Wir ergänzen diese Analyse in der Studie durch eine Erlebnisperspektive, die darauf abzielt, zu erforschen, wie Betroffene Energiearmut erleben und wie Intersektionalität, traditionelle Gendernormen und damit verbundene Tätigkeiten diese Erfahrung beeinflussen. Hier lassen sich beispielsweise genderspezifische Auswirkungen auf körperliche und psychische Gesundheit beobachten, aber auch eine Verschärfung von Ungleichheiten in Bezug auf Sorgearbeit und häusliche Gewalt.  

Große Aufmerksamkeit schenken wir in der Studie unseren nationalen Fallstudien und geben eine Einführung in die jeweiligen lokalen Kontexte, politische Entscheidungen rund um Energiearmut in den jeweiligen Mitgliedsstaaten und die Bevölkerungsgruppen, die überproportional von Energiearmut betroffen sind. In diesem Teil sind die Einschätzungen und Erfahrungen aus unseren Expert*innen-Interviews vor Ort in besonderen Maße eingeflossen und darauf aufbauend formulieren wir eine Reihe an Empfehlungen, wie geschlechtsspezifischen Risiken für Energiearmut entgegengewirkt werden kann – sei es in Bezug auf die Definition und Messung von Energiearmut, den Zugang zu finanzieller Unterstützung oder die Zusammenarbeit unterschiedlicher Politikbereiche in der Strategiefindung und Bekämpfung von Energiearmut.  

Hier findest Du die gesamte Studie als PDF